Kaum ein Tag vergeht in der Europäischen Union, ohne dass ein Mann eine Frau wegen ihres Geschlechts verletzt oder tötet. Die überwiegende Mehrheit der Täter, die physische oder psychische Gewalt anwenden, sind die derzeitigen oder ehemaligen Partner der betroffenen Frauen.
„Gewalt gegen Frauen wurzelt in Kontrolle, Dominanz und Ungleichheit.“
CARLIEN SCHEELE, DIREKTORIN EIGE
Carlien Scheele, Direktorin des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE), sprach bei der Vorstellung des aktuellen Berichts der Organisation im Februar.
Die Bekämpfung geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt ist ein zentraler Bestandteil der EU-Politik. Die EU-Kommission hat sich im Rahmen der Gleichstellungsstrategie 2020–2025 dazu verpflichtet, Gewalt vorzubeugen und zu bekämpfen, Betroffene zu unterstützen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ziel ist es, „signifikante Fortschritte“ hin zu einem geschlechtergerechten Europa zu erzielen.
Die für Gleichstellung zuständige EU-Kommissarin, Hadja Lahbib, präsentierte am Freitag den neuen Plan der Kommission zur Stärkung von Frauenrechten. Die Freiheit t von geschlechtsspezifischer Gewalt soll ein erster Schritt auf diesem Weg sein.
In den letzten Jahren hat die EU begonnen, Ziele wie dieses in den Fokus zu rücken, und ist unter anderem im Oktober 2023 der Istanbul-Konvention beigetreten. Dieses Abkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist das erste rechtlich bindende internationale Instrument seiner Art und definiert Gewalt gegen Frauen in vier Hauptformen: physische, sexuelle, psychologische und wirtschaftliche Gewalt.
Im Mai 2024 verabschiedete der Rat die EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Sie kriminalisiert auf EU-Ebene bestimmte Formen von Gewalt gegen Frauen, wie weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Gewalt im Netz – darunter die nicht einvernehmliche Verbreitung intimer Bilder, Cyberstalking, Cyberbelästigung sowie Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts. Die Richtlinie wurde als großer Schritt in die richtige Richtung gefeiert, allerdings auch kritisiert, da sich die Mitgliedstaaten nicht einen einheitlichen Tatbestand für Vergewaltigung einigen konnten. Insbesondere fehlte ein Konsens über eine Definition von Vergewaltigung, die auf Einvernehmen basiert („Nur Ja heißt Ja”).
Weit verbreitete Gewalt
Die Mitgliedstaaten haben bis Juni 2027 Zeit, die Richtlinie in nationales Recht und nationale Politik umzusetzen. Die Fortschritte sind jedoch individuell unterschiedlich, dabei ist das Ausmaß der Gewalt erschreckend groß. Die Statistiken, die wie jedes Jahr rund um den Internationalen Frauentag am 8. März veröffentlicht werden, sind ernüchternd.
Der EIGE-Gleichstellungsindex 2024 präsentierte aktuelle politische und rechtliche Entwicklungen zur Gewalt gegen Frauen in der EU und den Mitgliedstaaten. Der Bericht zeigte auf, dass Gewalt gegen Frauen „weit verbreitet und untererfasst“ sei.
In dem zusammengesetzten Index für Gewalt in zwölf Mitgliedstaaten lag der durchschnittliche Wert bei 31,9 Punkten, mit Griechenland (24,6 Punkte) und Finnland (41,7 Punkte) an den beiden Enden des Spektrums. Ein Wert von 1 steht für eine Situation ohne Gewalt, ein Wert von 100 zeigt, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und schwerwiegend ist.
Laut den Statistiken und EU-weiten Umfragedaten, die für den Index verwendet wurden, haben 31 Prozent der Frauen über 15 Jahren in der EU körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. 57 Prozent der Betroffenen litten unter gesundheitlichen Folgen.
In einer aktuellen deutschen Umfrage gaben 92 Prozent der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren an, Belästigung oder Übergriffe erlebt zu haben.
Was ist Femizid?
Laut EIGE ist die Erfassung von Femiziden – der Ermordung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts – in der EU schwierig, da die Definitionen variieren. Nicht alle Mitgliedstaaten verfügen über spezifische Gesetze in Sachen Femizid. Länder wie Malta, Zypern oder Kroatien haben jedoch spezielle Bestimmungen in ihren Strafgesetzen.
Dennoch werden in Europa weiterhin viele Frauen ermordet, wie diese Beispiele zeigen:
- In Frankreich meldete das Innenministerium 2023 insgesamt 96 Fälle von sogenanntem „konjugalen (ehelichen) Femizid“.
- In Spanien wurden 2024 insgesamt 48 Frauen durch „geschlechtsspezifische Gewalt“ in einer Beziehung oder Familiensituation ermordet. Im selben Jahr starben neun Minderjährige durch Verbrechen, die von ihren Vätern oder den Partnern ihrer Mütter begangen wurden. Zudem gab es mindestens sechs Femizide, die nicht von aktuellen oder ehemaligen Partnern begangen wurden. Seit 2003 wurden in Spanien insgesamt 1.293 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet.
- In Bosnien-Herzegowina (BiH) wurden 2024 zwölf Frauen Opfer von Femizid. Da es jedoch kein einheitliches Register für häusliche Gewalt gibt, ist das Ausmaß des Problems schwer zu erfassen, und die Reaktion der Institutionen ist nach wie vor unzureichend.
- Italien meldete 2024 mehr als 90 Femizide. Mindestens 48 der Opfer wurden von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Etwa jede fünfte Betroffene war über 70 Jahre alt.
- In Deutschland wird fast jeden Tag ein Femizid gemeldet. 2023 erlebten 938 Mädchen und Frauen versuchte oder vollendete Femizide, 360 davon starben. „Fast jeden Tag gibt es einen Femizid. Täglich sind etwa 400 Frauen Opfer von Gewalt in ihren Beziehungen,“ sagte Frauenministerin Lisa Paus im November bei der Vorstellung des ersten Lageberichts „Geschlechtsspezifische Straftaten gegen Frauen“.
Schutz der Opfer
Die Rechtssysteme der europäischen Länder zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt befinden sich auf unterschiedlichen Entwicklungsständen.
In Spanien, wo die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt seit langem Priorität hat, diskutiert das Parlament über die Erneuerung des sogenannten Staatspakts zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt mit rund 460 Maßnahmen zum Schutz der Opfer.
In Slowenien haben offiziellen Statistiken zufolge jede zweite Frau und jedes zweite Mädchen über 15 Jahren mindestens eine Form von Gewalt erlebt. Ende 2024 verabschiedete das Land einen Aktionsplan zur Umsetzung eines nationalen Programms zur Verhütung häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen.
In Nordmazedonien, einem EU-Beitrittskandidaten, wurde die Istanbul-Konvention ratifiziert. Doch Aktivistinnen und Aktivisten weisen darauf hin, dass weiterhin gravierende Probleme bestehen: Obwohl Änderungen des Strafgesetzbuchs im Jahr 2023 nun die Definition von Vergewaltigung auf der Grundlage fehlender Zustimmung beinhalten und Stalking sowie sexuelle Belästigung unter Strafe stellten, bleiben einige Opfer ungeschützt, da psychische Gewalt weder definiert noch kriminalisiert wurde.
Bosnien-Herzegowina (BiH) verabschiedete ebenfalls ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Der Föderale Justizminister Vedran Škobić erklärte, dieses Gesetz lege einen starken Fokus auf den Schutz von Frauen und wolle die Umsetzung der Istanbul-Konvention sowie bestimmter EU-Empfehlungen und Richtlinien fördern, die grundlegende Verpflichtungen im EU-Beitrittsprozess seien.
Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin Tea Rebac Mikulić betont jedoch, dass Frauen in Bosnien-Herzegowina oft keine Gewalt meldeten – bedingt durch traditionelle Geschlechterrollen, wirtschaftliche Unsicherheit und eine unzureichende institutionelle Reaktion.
In Bulgarien ergaben Eurostat-Daten aus dem Jahr 2024, dass nur 6 Prozent der Frauen angaben, Gewalt durch Nicht-Partner erlebt zu haben – der niedrigste Wert in der EU. Das Innenministerium stellte jedoch fest, dass die Fälle häuslicher Gewalt sowie die erlassenen Schutzanordnungen und eingeleiteten Verfahren im Kontext häuslicher Gewalt zunehmen. Justizminister Georgi Georgiev erklärte, die Regierung bereite sich aktiv auf die Umsetzung der EU-Richtlinie vor.
Die polnische Ministerin für Gleichstellung, Katarzyna Kotula, äußerte sich wiederholt zum Thema Gewalt gegen Frauen und betonte die ernste Bedeutung und den systemischen Charakter. Sie forderte dringende systemische Veränderungen.
Fortschritt verzögert und bedroht
Die Fortschritte innerhalb der EU sind unterschiedlich. Fünf Mitgliedstaaten – Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen und die Slowakei – haben die Istanbul-Konvention noch nicht ratifiziert.
Obwohl die EU rechtlich klare Schritte unternommen hat, erfordert der Kampf für echten Fortschritt dringend Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgern, der Zivilgesellschaft und den Bürgern, mahnt das EIGE. Der Bericht zeige zudem besorgniserregende Toleranzwerte gegenüber Gewalt gegen Frauen: 17 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Berichte über sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung oft übertrieben seien. 46 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen halten finanzielle Kontrolle in Beziehungen für akzeptabel, und 27 Prozent der Männer sowie 15 Prozent der Frauen glauben, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hinnehmbar sei.
Auch der politische Widerstand gegen die Gleichstellung der Geschlechter nimmt zu. In einem Bericht warnte die UNO-Frauenorganisation UN Women diese Woche, dass in einem Viertel der Länder weltweit die Frauenrechte aufgrund von Faktoren wie Klimawandel und demokratischem Rückschritt geschwächt worden seien. „Die Schwächung demokratischer Institutionen geht Hand in Hand mit einer Rückentwicklung in der Gleichstellung der Geschlechter,“ heißt es dort. Weiter wurde betont, dass „Akteure gegen Frauenrechte lange bestehende Konsense zu zentralen Frauenrechtsthemen aktiv untergraben“.
„Die Gleichstellung der Geschlechter in Frage zu stellen bedeutet, den Fortschritt in Frage zu stellen. Die Gleichstellung der Geschlechter steht nicht zur Debatte – sie sollte so selbstverständlich sein wie die Luft, die wir atmen. Sie ist das Herzstück unseres europäischen Lebensstils,“ sagte Kommissarin Lahbib am Freitag bei der Vorstellung des Plans. „Diese Roadmap für die Rechte der Frau ist unser Leitfaden, unsere Vision für eine Welt, in der Frauen und Mädchen frei von Gewalt und Diskriminierung ihr volles Potenzial entfalten können.“
Zwar verfügen viele Mitgliedstaaten über Aktionspläne zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, doch deren Wirksamkeit variiert. Beispielsweise kritisierte das EIGE, dass die Finanzierung von Präventionsprogrammen, der Zugang zu Schutzunterkünften, Beratungs- oder anderen Unterstützungsdiensten hinter den Anforderungen zurückbleibe.
Maria Mollica, die bei der Europäischen Kommission im Ressort Gleichstellungspolitik das Team Gewalt gegen Frauen leitet, das sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt befasst, hofft, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Gewalt gegen Frauen bis Juni 2027 viele dieser Defizite beheben wird.
„Durch die Umsetzung der Richtlinie müssen die meisten Anforderungen der Istanbul-Konvention in nationales Recht überführt werden, selbst in den Mitgliedstaaten, die die Konvention noch nicht ratifiziert haben,“ erklärte sie.
Der Kampf gegen Gewalt an Frauen erfordert nicht nur eine Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung, sondern auch mehr finanzielle Mittel, betonte Stephanie Futter-Orel, Direktorin des Netzwerks Women Against Violence Europe (WAVE).
Gewalt gegen Frauen verursacht nicht nur unermessliches Leid, sondern führt auch zu erheblichen wirtschaftlichen Kosten. Eine Schätzung des EIGE aus dem Jahr 2021 beziffert die Kosten in der gesamten EU auf etwa 366 Milliarden Euro, wobei Gewalt gegen Frauen 79 Prozent dieser Summe ausmacht. Die Kosten resultieren aus den körperlichen und emotionalen Folgen der Gewalt, den Ausgaben für Straf- und Ziviljustiz sowie aus den wirtschaftlichen Einbußen durch Gewalt.
Dieser Artikel wird zweimal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf den Nachrichten der am European Newsroom beteiligten Agenturen.