Die Positionen könnten nicht weiter auseinander liegen: Deutschland und die Niederlande pochen auf mehr Haushaltsdisziplin, während hoch verschuldete Länder befürchten, dass ein schnellerer Schuldenabbau ihr Wirtschaftswachstum gefährden könnte.
Die Schulden- und Defizitregeln der Europäischen Union, bekannt als Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), legen Schuldenobergrenzen für die EU-Mitgliedsstaaten fest. Die Regeln wurden aufgrund der Covid-19-Pandemie erstmalig ausgesetzt und ein weiteres Mal bis Jahresende wegen der Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Derzeit wird in der EU über eine Reform verhandelt.
„Solide öffentliche Finanzen sind eine Voraussetzung für einen wettbewerbsfähigen Binnenmarkt und eine stabile Währungsunion. Deshalb setzt sich Deutschland für eine ehrgeizige Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts ein“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner dem European Newsroom (enr) in einem Video-Interview.
Reformvorschlag der Europäischen Kommission stößt auf Kritik in Deutschland
Die Europäische Kommission hatte in ihren Mitte April vorgelegten Vorschlägen angeregt, hoch verschuldeten Ländern mehr Flexibilität beim Abbau von Schulden und Defiziten zu gewähren. Eine allgemeingültige Regel für das Tempo des Schuldenabbaus, die für alle Mitgliedsstaaten gelten würde, sei nicht vorgesehen. Deutschland fordert jedoch, dass Länder mit übermäßiger Verschuldung verpflichtet werden, diese jedes Jahr um mindestens ein Prozent zu reduzieren. „Der Vorschlag der EU-Kommission ist noch nicht ausreichend und muss nachgebessert werden, denn bisher ist nicht gewährleistet, dass es zu einem realistischen und verlässlichen Schulden- und Defizitabbau kommt“, sagte Lindner.
Während andere Partner eine feste Senkung ablehnen, argumentierte der FDP-Chef, dass die Senkung um 1 Prozent in normalen wirtschaftlichen Zeiten „nicht übermäßig ehrgeizig“ sei und sagte, er sei offen für die Einführung einer Schutzklausel (die Abweichungen von den Haushaltszielen erlauben würde) für Krisenzeiten, um die Bedenken anderer Länder gegenüber dieser Idee auszuräumen.
Obwohl Lindner betonte, dass Berlin bereit sei, über Verbesserungsmöglichkeiten des Brüsseler Vorschlags zu diskutieren, zeigte er sich skeptisch gegenüber der Möglichkeit, Ausnahmen bei der Defizitberechnung für bestimmte Investitionen, zum Beispiel in die Verteidigung, einzuführen, wie es einige Länder fordern.
„Einerseits müssen wir ein hohes Niveau an öffentlichen Investitionen aufrechterhalten. Andererseits gibt es keine realistische Alternative zum Abbau von Defiziten und Schuldenquoten. Eine zu hohe Staatsverschuldung würde unserer wirtschaftlichen Entwicklung und der Verlässlichkeit des Euro als unserer gemeinsamen Währung schaden“, sagte er.
Mehrere Mitgliedstaaten haben eine weit höhere Verschuldung als die zulässigen 60 Prozent des BIP. Griechenland liegt mit einer Staatsverschuldung von über 189 Prozent des BIP an der Spitze, gefolgt von Italien (152,6 Prozent) und Portugal (127 Prozent).
Deutschland isoliert?
Der deutsche Finanzminister bestritt ebenfalls, dass sein Land bei den Verhandlungen isoliert sei. „Andere mögen sich weniger laut äußern, aber es gibt viele Mitgliedstaaten, die unsere Ansichten über die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung der Stabilität und Glaubwürdigkeit der steuerlichen Regeln teilen“, sagte der Finanzminister und fügte hinzu, er sei überzeugt, dass eine Einigung über eines der am meisten spaltenden Themen in der EU erzielt werden könne.
Der kroatische Finanzminister Marko Primorac sagte, dass sein Land mit den derzeitigen Regeln leben könne, da die Staatsverschuldung nach den Prognosen der Regierung bereits im nächsten Jahr auf unter 60 Prozent des BIP sinken werde. Gleichzeitig erklärte er, Kroatien sei bereit, jede Verbesserung im Hinblick auf eine größere Transparenz und Einfachheit der Regeln zu unterstützen. Die kroatische Regierung geht davon aus, dass die Schuldenquote in diesem Jahr auf 62,6 Prozent und bis Ende 2026 sogar auf 55,6 Prozent sinken wird.
Überprüfung des langfristigen Haushalts der EU
In diesem Jahr wird die EU den mehrjährigen Finanzrahmen, den Sieben-Jahreshaushalt, überprüfen. Lindner sagte, er erwarte, dass die Kommission zusätzliche Mittel beantragen werde, unter anderem wegen der hohen Ausgaben in der Ukraine-Hilfe.
Er sprach sich gegen eine Erhöhung des europäischen Haushalts aus, die von den Mitgliedstaaten getragen werden müsste, und schlug stattdessen eine Umverteilung der vorhandenen Mittel vor.
„Bevor die Beiträge der Mitgliedstaaten erhöht werden, sollte der zusätzliche Finanzbedarf durch Umschichtungen oder durch die Nutzung der bestehenden Spielräume im EU-Haushalt für unvorhergesehene Ereignisse gedeckt werden. Daher sehen wir keine Notwendigkeit, neue zusätzliche Mittel einzuführen“, sagte er.
Lindner sagte auch, er sei nicht dafür, ein neues Instrument wie die Next Generation EU zu schaffen, um zum Beispiel gemeinsame Anleihen auszugeben, da die bestehenden Mittel noch nicht verwendet worden seien. Die Hilfe für den Wiederaufbau der Ukraine sei eine separate Diskussion, an der internationale Finanzinstitutionen wie der IWF, multilaterale Entwicklungsbanken und die G7 beteiligt werden sollten.
Inflation so schnell wie möglich eindämmen
FDP-Chef Lindner sagte, die hohe Inflation sei ein Problem für die nationalen Haushalte und für die Finanzinstrumente der Europäischen Union. „Deshalb haben wir die Verantwortung, die Inflation so schnell wie möglich zu senken. Wenn wir die Geldpolitik durch unsere Fiskalpolitik mit höheren Ausgaben konterkarieren, dann würde der Prozess der Inflationsbekämpfung länger dauern und unsere Volkswirtschaften stärker schädigen“, sagte Lindner.
In Bezug auf die Idee, den erhöhten Bedarf an Verteidigungsausgaben von der Berechnung des Defizits auszunehmen, die von einigen Ländern befürwortet wird, sagte er: „Warum bin ich so skeptisch? Ganz einfach, weil die Kapitalmärkte nicht zwischen den Motiven für die Aufnahme von Schulden unterscheiden. Für die Kapitalmärkte sind Schulden Schulden und eine zu hohe Verschuldung führt zu Instabilität. Sie schüren möglicherweise die Inflation und beeinträchtigen die Tragfähigkeit unserer öffentlichen Finanzen.“
Italien ist das einzige Land, das den ESM nicht ratifiziert hat
In Bezug auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sagte Lindner, er erwarte, dass Italien seine Reform „in einer recht kurzen Zeitspanne“ und nach einem „Meinungsaustausch über die zukünftigen Entwicklungen in den nächsten Jahren“ ratifizieren werde.
„Ich denke, die italienische Regierung hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen, und ESM-Direktor Pierre Gramegna wird sicherlich in der Lage sein, sie alle zu beantworten. Ich bin überzeugt, dass wir eine gemeinsame Basis finden werden“, so Lindner gegenüber dem enr.
Italien ist das einzige Land, das die Reform des ESM nicht ratifiziert hat. Die Regierung argumentiert, dass der Mechanismus auch für andere Zwecke als Rettungsaktionen genutzt werden sollte, zum Beispiel zur Förderung von Investitionen und Wachstum.
Konsens bis Ende des Jahres?
Ab Juli wird Spanien die Präsidentschaft des Europäischen Rates übernehmen, und die Vizepräsidentin des Landes, Nadia Calviño, wird die Verhandlungen im Rat der EU-Wirtschafts- und Finanzminister führen.
„Es ist schwierig, einen Konsens zu finden, aber wenn jemand in der Lage ist, uns alle zu vereinen, dann ist es Nadia Calviño. Sie hat unsere Unterstützung, und wir werden uns während des gesamten Prozesses konstruktiv verhalten“, sagte Lindner und fügte hinzu, er sei überzeugt, dass die spanische Vizepräsidentin sich trotz der „sehr spezifischen innenpolitischen Umstände“ (bezogen auf die spanischen Parlamentswahlen im Juli) „bemühen“ werde, eine Einigung zu erzielen.
Sollte keine Einigung erzielt werden, werden die aktuellen Regeln ab 2024 wieder angewandt werden, sagte Lindner, „bis es neue gibt“, trotz der Tatsache, dass diese Regeln für die Hälfte der EU-27, einschließlich Deutschland, fiskalische Anpassungen erfordern würden, wenn die Schwellenwerte von drei Prozent des BIP für das Haushaltsdefizit oder 60 Prozent für die öffentliche Verschuldung überschritten werden, gemäß den jüngsten Prognosen der Kommission.
Lindner sagte, Deutschland tue sein Bestes, um „in diesem Jahr einen Konsens zu erreichen, aber es muss die beste und nachhaltigste Lösung sein und nicht die schnellste“. Deutschland sei bereit, Tag und Nacht und auch an Wochenenden und Feiertagen zu verhandeln, wenn es nötig sei, um bis Ende 2023 einen Konsens zu erreichen, sagte er.
Diesen Freitag treffen sich die EU-Finanzminister in Luxemburg – und die Diskussion über Schuldenregeln steht auf der Tagesordnung.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.