Die Europäische Union wird ihr Ziel, innerhalb eines Jahres, also bis März 2024, eine Million Artilleriegranaten und Raketen an die Ukraine zu liefern, möglicherweise nicht erreichen. Das gilt trotz Bemühungen um eine Erhöhung der Produktionskapazitäten und der Verträge mit der Rüstungsindustrie. Bei einem Treffen der Verteidigungsminister der EU am Dienstag zogen die europäischen Beamten eine Bilanz der militärischen Unterstützung, die sie der Ukraine zur Verteidigung gegen die russische Invasion zugesagt haben.
„Das Eine-Million-Ziel wird nicht erreicht werden, davon müssen wir ausgehen,“ sagte der deutsche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Die Stimmen, die von Anfang an davor gewarnt hätten, dass das Ziel unrealistisch sei, bekämen nun leider recht.
„Das Eine-Million-Ziel wird nicht erreicht werden, davon müssen wir ausgehen. Leider haben die warnenden Stimmen jetzt Recht.“
Boris Pistorius, deutscher Bundesverteidigungsminister
Die Schwierigkeiten der Europäischen Union, zugesagte Lieferungen einzuhalten, kommen in einem Moment, an dem die Opposition im US-Kongress Zweifel an der Fähigkeit Washingtons aufkommen lässt, die Lieferungen aufrechtzuerhalten. Diese pessimistische Einschätzung fällt auch in eine düstere Zeit für die Ukraine, nachdem ihre Gegenoffensive bei der Rückgewinnung von Territorium gescheitert ist und Israels Krieg mit der Hamas die Aufmerksamkeit seiner wichtigsten Verbündeten auf sich zu ziehen scheint.
Die EU-Staaten hatten zuvor beschlossen, der Ukraine eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu stellen, die das Land dringend für seine Verteidigung gegen Russland benötigt. Bislang konnten die EU-Staaten nur 300.000 Schuss aus ihren Beständen bereitstellen.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 haben westliche Länder je nach den Entwicklungen auf dem Schlachtfeld eine breite Palette von Waffen an Kiew geliefert. Brüssel sagt, dass es zusammen mit den EU-Mitgliedstaaten seit Beginn des Krieges militärische Unterstützung im Wert von 27 Milliarden Euro für die Ukraine organisiert habe – aber der Plan, Kiew langfristig zu unterstützen, ist ins Stocken geraten sei.
Neue Beihilfe auf EU-Ebene scheint umstritten
Während die meisten Mitgliedstaaten der EU bereit sind, die Ukraine langfristig zu unterstützen, zögern einige Länder wie Ungarn und die Slowakei, neue Finanzierungszusagen für Kiew zu treffen. Dadurch sind die Diskussionen über die EU-Initiative ins Stocken geraten.
Im Juli schlug der EU-Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, einen neuen Verteidigungsfonds in Höhe von 20 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre vor, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu decken. Der Plan war Teil eines umfassenderen Versprechens der G7, Kiew mit langfristigen Sicherheitsverpflichtungen dabei zu helfen, russische Aggressionen abzuwehren.
Die 27 EU-Mitgliedstaaten dazu zu bringen, neuen Hilfen für Kiew zuzustimmen, wurde dadurch erschwert, dass die weitere finanzielle Unterstützung für die Ukraine an einen Legislativ-Vorschlag für eine umfassende Überarbeitung des langfristigen EU-Haushalts geknüpft war. Die Kommission hat kürzlich dazu aufgerufen, zusätzlich 66 Milliarden Euro zum gemeinsamen Haushalt beizusteuern. Das führte zu Unmut einiger nationaler Regierungen, die mit stagnierenden Volkswirtschaften und knappen Haushalten zu kämpfen haben.
Deutschland, das vergangene Woche angekündigt hat, seine eigenen Mittel für die Ukraine im nächsten Jahr auf acht Milliarden Euro zu verdoppeln, zögert, mehr Geld in den EU-Topf zu geben. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, dass das vorhandene Geld besser genutzt werden sollte, bevor weitere Beiträge von den EU-Mitgliedern gefordert würden.
Ungarn, der engste Verbündete Russlands in der EU, hat sich skeptisch zu dem Plan geäußert. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte, er sei nicht bereit, neuen Geldern für die Ukraine zuzustimmen.
Die neue slowakische Regierung unter Robert Fico werde der Ukraine keine staatliche Militärhilfe mehr gewähren. Sie werde jedoch Rüstungsaufträge für die Ukraine durch private Unternehmen in der Slowakei respektieren, sagte Juraj Blanár, der slowakische Minister für auswärtige und europäische Angelegenheiten, am Montag in Brüssel. Letzte Woche hatte die Regierung ein von der Vorgängerregierung geplantes Militärhilfepaket für die Ukraine im Wert von 40,3 Millionen Euro blockiert.
Europäische Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine ist weiterhin offensichtlich
Die Pläne, mehr Geld für die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung gegen Russland auszugeben, sind zunehmend unter Druck geraten. Dennoch ist die Bereitschaft in Europa, die Ukraine und ihre Bevölkerung zu unterstützen – sei es durch finanzielle, militärische oder andere Formen der Hilfe – nicht völlig ins Wanken geraten.
Unabhängig von seiner Haltung zur staatlichen Militärhilfe betonte der slowakische Außenminister auch, dass die Slowakei den Ukrainern im kommenden Winter mit humanitärer Hilfe und Minenräumung helfen will. Die Slowakei unterstütze auch die Bestrebungen der Ukraine, Mitglied der EU zu werden.
Diese Woche wurde in Rumänien ein neues europäisches F-16-Ausbildungszentrum eingeweiht, das in erster Linie rumänische Piloten ausbilden wird, aber auch Verbündeten und Partnerländern, darunter der Ukraine, offen steht. Gemäß den vereinbarten Bedingungen, die die Eröffnung des Zentrums ermöglichten, wird Rumänien einen Militärstützpunkt für die Ausbildung zur Verfügung stellen, während die Niederlande die Flugzeuge liefern und das US-Rüstungsunternehmen Lockheed Martin Ausbilder und Wartung bereitstellen wird. Die Ukraine wird voraussichtlich ab 2024 F-16-Flugzeuge von einigen der westlichen Verbündeten erhalten.
Der bulgarische Verteidigungsminister Todor Tagarev erklärte am Dienstag in Brüssel vor bulgarischen Journalisten, dass der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich weitergehen werde und die EU-Mitgliedstaaten ihre militärischen Bestände aufstocken müssten, was bedeute, dass die bulgarische Industrie Aufträge erhalte. Seiner Meinung nach garantiert Bulgarien seine eigene Sicherheit, indem es der Ukraine hilft. Es lohne sich, der Ukraine auch nur minimal zu helfen, betonte der Minister, nachdem das bulgarische Parlament am 27. September eine Resolution über die Bereitstellung zusätzlicher Militärhilfe für die Ukraine verabschiedet hatte.
Die nordmazedonische Verteidigungsministerin Slavjanka Petrovska sagte in einem Fernsehauftritt am 6. November, dass eine neue Anfrage um zusätzliche Militärhilfe aus der Ukraine eingegangen sei, die derzeit vom Generalstab der Armee geprüft werde. „Wenn wir eine positive Stellungnahme erhalten, werde ich die Anfrage sofort an die Regierung weiterleiten und sie wird angenommen,“ sagte Petrovska und fügte hinzu, dass die Anfrage aus der Ukraine geheim sei.
Albanien hat sich im Rahmen der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine dem Sanktionspaket der EU gegen Russland angeschlossen. Albanien ist auch Mitglied der Ukraine Defense Contact Group (UDCG), vertreten durch seinen Verteidigungsminister Niko Peleshi. Die UDCG ist eine von den USA geleitete Initiative, die Verbündete und Partner aus der ganzen Welt zusammenbringt, um die Zusammenarbeit und die Sicherheitsherausforderungen zu erörtern, die sich aus der russischen Aggression in der Ukraine ergeben.
Borrell und Breton: Die Kapazitäten der Industrie sind vorhanden
In Bezug auf die versprochene Munition versicherte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton den Verteidigungsministern der EU am Dienstag, dass die Brüsseler Pläne zur Förderung von Rüstungsunternehmen diese auf die Produktion der vereinbarten Menge vorbereitet habe. Er machte auch deutlich, dass er glaube, dass die EU in der Lage sein werde, das Ziel zu erreichen, bis zum nächsten Frühjahr „mehr als eine Million“ Granaten zu produzieren.
„Die Industrie hat die Kapazität, eine Million Geschosse pro Jahr zu produzieren, aber das bedeutet nicht, dass wir bis März eine Million fertig haben werden,“ sagte Josep Borrell und fügte hinzu, dass es an den „Mitgliedsstaaten liege, die Aufträge für diese Produktion weiterzugeben“. Auf jeden Fall sei es das „politische Ziel“, eine Million Munitionsladung zu erreichen – „ehrgeizig“, aber „wir streben es weiter an“.
„Die Industrie hat die Kapazität, eine Million Geschosse pro Jahr zu produzieren, aber das bedeutet nicht, dass wir bis März eine Million fertig haben werden. Es liegt an den Mitgliedstaaten, die Aufträge für diese Produktion weiterzugeben.“
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell
Ein großes Problem sei, dass europäische Rüstungsunternehmen etwa 40 Prozent ihrer Produktion in andere Länder exportierten, so Borrell. Er forderte die Mitgliedstaaten auf, den Munitionsexporten in die Ukraine Priorität einzuräumen, um schneller mehr Munition bereitstellen zu können. Die Frage sei, so Borrell, ob die Länder, die das Material letztlich nach Kiew schicken müssten, sich selbst organisieren würden, um die Produktion rechtzeitig zu bestellen.
Der EU-Außenpolitikchef erklärte, dass die Länder gemeinsam 180.000 weitere 155-Millimeter-Geschosse bestellt haben, diese Zahl aber erst Ende nächsten Jahres erreicht werden soll.
Borrell sagte, er werde die europäischen Staats- und Regierungschefs über seine Arbeit mit den ukrainischen Behörden informieren, um auf langfristige Sicherheitsgarantien zu drängen. Er werde außerdem im Dezember einen neuen Vorschlag für Sicherheitsverpflichtungen und Militärhilfe für die Ukraine vorlegen.
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