Wien – Nachdem sich die EU-Staaten am Freitag nicht auf das EU-Lieferkettengesetz einigen konnten und die Abstimmung darüber vertagt wurde, appellierten viele Umweltorganisationen, NGOs und politische Akteure erneut an den österreichischen Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP), dem Vorschlag zuzustimmen. Österreich und Deutschland etwa hatten im Vorfeld erklärt, sich zu enthalten, was einem Nein gleichkam. Wirtschaftsvertreter warnten erneut vor einer aus ihrer Sicht drohenden Überregulierung.
Die SPÖ-EU-Abgeordnete und EP-Vizepräsidentin Evelyn Regner plädierte in einer Aussendung dafür, dem EU-Lieferkettengesetz zuzustimmen – auch um Unternehmen Rechtssicherheit durch einheitliche EU-Standards zu geben. „Wir haben die Möglichkeit, uns für saubere Lieferketten, Umwelt- und Menschenrechte einzusetzen und einen globalen Standard zu setzen. Diese Chance dürfen wir in dieser Legislaturperiode nicht verstreichen lassen.“
Die Arbeiterkammer (AK) betonte in einer Stellungnahme gegenüber der APA erneut, dass das EU-Lieferkettengesetz die Chance biete, Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weltweit und für die Umwelt zu bringen. Gleichzeitig seien positive Auswirkungen auf die Wirtschaft zu erwarten, verband die AK ihren neuerlichen Appell an Kocher, dem Vorschlag zuzustimmen.
Greenpeace sieht in der Verschiebung der Abstimmung einen „katastrophalen Rückschlag für Mensch und Umwelt weltweit“. „Es ist beschämend, dass ÖVP-Minister Kocher sich enthalten und so die demokratischen Spielregeln der EU verletzen will“, kritisierte Greenpeace-Sprecherin Lisa Panhuber. Die Umweltorganisation Global 2000 appellierte an Kocher, die Chance zu nutzen, „sich doch noch auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen und für Menschenrechte und Umweltschutz einzustehen.“ Auch die Menschenrechtsorganisation Südwind und das Netzwerk Soziale Verantwortung forderten von Kocher, das EU-Lieferkettengesetz nicht länger zu „blockieren“.
Die liberalen NEOS betonten in einem Statement, dass das Ziel der EU, Handelsbeziehungen als Hebel für nachhaltiges und verantwortungsvolles Wirtschaften zu nutzen zwar sinnvoll, der Weg dorthin aktuell aber mit zu vielen bürokratischen Hürden und Regulierungen verstellt sei. NEOS-Generalsekretär Douglas Hoyos: „Ein Lieferkettengesetz darf insbesondere mittelständische Betriebe nicht in Bürokratieketten legen. Das gefährdet Wohlstand und Arbeitsplätze und heizt nicht zuletzt die Teuerung für Konsumentinnen und Konsumenten weiter an.“
Die Industriellenvereinigung (IV) warnte wie bereits im Vorfeld der Abstimmung vor einer möglichen Überregulierung und einem „überbordenden Bürokratieaufwand“ für europäische Unternehmen. Aus Sicht der IV sei die Richtlinie in der vorliegenden Form für Unternehmen nicht umsetzbar. Die damit verbundenen Kontrollpflichten, über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, würden sich „jeglicher unternehmerischen Realität“ entziehen. Auch die Wirtschaftskammer (WKÖ) plädiert dafür, beim EU-Lieferkettengesetz nachzubessern, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU nicht zu gefährden. „Wenn das EU-Lieferkettengesetz Investitionen und internationale Lieferbeziehungen heimischer Unternehmen verhindern oder gar zu Abwanderungen führen würde, verfehlte es seinen Zweck und könnte den Status quo in Drittstaaten verschlechtern“, warnte WKÖ-Generalsekretär Karlheinz Kopf in einer Aussendung.
Der zuständige Wirtschaftsminister Kocher will jedenfalls weiterverhandeln. „Dass die Abstimmung über die Lieferketten-Richtlinie nun vertagt wurde, zeigt, dass neben Österreich auch zahlreiche andere Länder Bedenken zu dem aktuell vorliegenden Entwurf haben“, teilte Wirtschaftsminister Kocher in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber der APA mit. „Wir haben weitere Verhandlungen gefordert und begrüßen die nunmehrige Rückkehr an den Verhandlungstisch.“ (09.02.2024)
FPÖ: Orban-Vorstoß gegen EU-Direktwahl „überlegenswert“
Brüssel – Für den FPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament Harald Vilimsky ist der Vorstoß des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, die Direktwahlen zum Europäischen Parlament abzuschaffen, „durchaus überlegenswert“. Die Mehrheit der österreichischen Delegationsleitenden im EU-Parlament erteilt diesem am Montag in Brüssel hingegen Absagen. Andreas Schieder (SPÖ) spricht von „abstrusen Vorschlägen“, die grüne Monika Vana von einer „absurden Forderung“.
„Wir sollten erwägen, zum früheren System zurückzukehren, bei dem die nationalen Parlamente ihre Vertreter in das Europäische Parlament entsenden, anstatt Direktwahlen durchzuführen“, hatte Orbán in einem Gespräch mit Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) erklärt, das die „Presse am Sonntag“ veröffentlichte. „Einer der Gründe für unsere Schwäche ist, dass das Europäische Parlament heute nicht funktioniert. Es ist ein Tollhaus“, begründete Orbán seinen Vorschlag.
„Ich halte nichts von dem Vorschlag, die Direktwahl des Europaparlaments abzuschaffen. Sie ist eine wichtige Säule unseres demokratischen Europas. Das Europaparlament repräsentiert die Bürgerinnen und Bürger Europas, daher sollten sie ihre Abgeordneten auch direkt wählen dürfen. Alles andere wäre ein Rückschritt für den europäischen Gedanken“, kritisierte ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig den Vorstoß Orbáns.
SPÖ-Delegationsleiter Andreas Schieder zeigte sich gegenüber der APA wenig überrascht, „dass ein autoritärer Antidemokrat wie Viktor Orbán autoritäre und antidemokratische Ideen verfolgt.“ Es handle sich um eine gezielte Provokation ohne jede reale Konsequenz, „man sollte diesen abstrusen Vorschlägen also auch gar nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken“, betonte Schieder. Das EU-Parlament sei ihm natürlich ein besonderer Dorn im Auge, denn es sei die einzige EU-Institution, das sich seit Jahren konsequent Orbáns Vision einer illiberalen Demokratie in den Weg stelle.
Für FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky hingegen sind die Forderungen Orbáns „durchaus überlegenswert“: „Das ist nicht weniger demokratisch als eine Direktwahl, weil die nationalen Parlamente ja ohnehin demokratisch gewählt sind.“ Vilimsky hält das Europaparlament für „völlig überdimensioniert“. Auch der „monatliche Wanderzirkus“ von Brüssel nach Straßburg koste den Steuerzahler hunderte Millionen Euro im Jahr. Die FPÖ wolle eine deutliche Verschlankung auf die Hälfte der Abgeordneten, nur noch einen Parlamentssitz in Straßburg und eine deutliche Kompetenzverlagerung von Brüssel in die Mitgliedstaaten.
„Die absurde Forderung von Orbán ist ein weiterer Beweis dafür, dass Orbán den Wert der Demokratie als einen fundamentalen Wert der EU nicht teilt“, meint hingegen die Grüne Monika Vana. „Anstatt sich der Wahl des Volkes zu stellen, will er lieber seine eigenen Marionetten ins Europaparlament schicken.“ Vana sieht „diese Forderung auch als weitere Bestätigung dafür, dass Orbán die unmittelbar nach der Europawahl stattfindende Ratspräsidentschaft entzogen werden sollte, und alle zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft werden müssen, um in Ungarn Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen.“
„Auch wir NEOS wollen eine Reform in der EU, aber in die ganz andere Richtung. Hin zu mehr Demokratie, mit einem selbstbewussten Parlament“, sagt EU-Abgeordnete Claudia Gamon zur APA. „Wir möchten dorthin, wo ein Teil der Abgeordneten über länderübergreifende Listen gewählt werden kann, wo der bzw. die Kommissionspräsident:in direkt gewählt wird und das Europäische Parlament die Kommissar:innen wählt. Wir wollen die Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen maximieren, denn jede Stimme zählt und gestaltet die Zukunft Europas mit.“
Das Europaparlament wird seit 1979 in direkter Wahl vom Volk bestimmt und ist damit die einzige EU-Institution mit einer unmittelbaren demokratischen Legitimation. Die 720 EU-Abgeordneten, die Anfang Juni neu gewählt werden, bestimmen gemeinsam mit Vertretern der 27 EU-Regierungen über europäische Gesetze. Während Orbán im Kreise der EU-Regierungen regelmäßig die Vetokarte zu spielen versucht, sind die 13 EU-Abgeordneten seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei im Europaparlament marginalisiert. (12.02.2024)
Österreichs Bundespräsident hält EU-Beitritt Montenegros bis 2028 „realistisch“
Wien – Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hält eine „realistische Beitrittsperspektive“ für die Westbalkan-Länder angesichts der russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als „wichtiger denn je“. Montenegro sieht er dabei als „Frontrunner“, wie Van der Bellen anlässlich des Besuchs des montenegrinischen Präsidenten Jakov Milatović am Donnerstag in Wien sagte. Es sei „realistisch“, dass der kleine Adriastaat bis 2028 EU-Mitglied ist.
Er sehe im Moment „keine unüberwindlichen Schwierigkeiten“, die einen Beitritt bis 2028 verhindern sollten, betonte Van der Bellen im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Milatović. Bereits jetzt sind alle 35 Verhandlungskapitel geöffnet. Und im Gegensatz zu anderen Beitrittskandidaten habe Montenegro auch keine Konflikte und Streitigkeiten mit Nachbarn, die den Beitrittsprozess behindern könnten.
Der Beitritt des Westbalkans zur Europäischen Union sei der „einzige Garant der Stabilität und des Wohlstandes in dieser Region Europas“, zeigte sich Milatović überzeugt. In der Vergangenheit habe „mangelnde Präsenz“ der EU auf dem Westbalkan dazu geführt, dass bestimmte Länder ihren Einfluss in der Region vergrößerten, sagte Milatović und nannte konkret China und Russland.
Engagiere sich die EU nicht stärker am Westbalkan, entstehe dort „politisches Vakuum“, das andere Staaten nutzen würden, warnte auch Van der Bellen. Das könne nicht im europäischen Interesse sein. Mit dem Angriff auf die Ukraine habe der Westbalkan eine „neue Aufmerksamkeit“ erfahren und die „Erweiterungsfaulheit und -müdigkeit“ der Union sei beseitigt worden. „Wir können es uns nicht leisten, diese Länder außen vor zu lassen.“
Es war der erste Besuch eines montenegrinischen Präsidenten in Österreich seit der Unabhängigkeit. 2006 spaltete sich Montenegro von Serbien ab. Van der Bellen sprach von einem „Zeichen der Freundschaft zwischen Österreich und Montenegro sowie als Symbol des österreichischen Engagements am Westbalkan.“ Er unterstrich die Wichtigkeit der bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und Montenegro, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Energie. Präsident Milatović hoffte auf mehr direkte Investitionen von österreichischen Unternehmen in Montenegro. Derzeit liegt Österreich unter den Top-10 bei den Direktinvestitionen, künftig soll es nach Wünschen Milatovićs in die Top-5 aufsteigen. Van der Bellen hob zudem die Kooperation im Bereich Berufsbildung mit Blick auf den Fachkräftemangel hervor. (08.02.2024)
Diese Zusammenstellung ist eine redaktionelle Auswahl der APA-Europaberichterstattung. Die redaktionelle Verantwortung für die Veröffentlichung liegt bei der APA. Sie wird montags und donnerstags veröffentlicht.