Nach monatelangen, intensiven Verhandlungen hat sich die EU auf ihren Rechtsakt zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen geeinigt. Es handelt sich dabei um eine umfassende Richtlinie, die darauf abzielt, die rechtlichen Definitionen und Mindeststrafen für Straftäter in der gesamten EU zu harmonisieren.
Das Gesetz soll Frauen in der 27 Mitgliedsstaaten umfassenden EU vor geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsehen, weiblicher Genitalverstümmelung und Online-Belästigung schützen. Der Text stellt Cyber-Stalking, Cyber-Belästigung und die Aufstachelung zu Hass oder Gewalt im Internet unionsweit unter Strafe.
Die Europäische Kommission schlug die wichtigen Rechtsvorschriften erstmals am 8. März 2022 anlässlich des Internationalen Frauentags vor.
Das jüngste Abkommen enthält jedoch keine gemeinsame Definition von Vergewaltigung, was sich als der umstrittenste Punkt in den Verhandlungen erwies.
Die Chefunterhändlerinnen des Europäischen Parlaments für das Dossier, die schwedische Abgeordnete Evin Incir (S&D) und die irische Abgeordnete Frances Fitzgerald (EVP), machten auf einer Pressekonferenz in Straßburg keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung und hofften, dass die Richtlinie „der Anfang, nicht das Ende“ der Gesetzgebung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in der EU sein wird.
Streit: Verhandlungen um Definition von Vergewaltigung belastet
Der von vielen geforderte Schritt, eine gemeinsame Definition von Vergewaltigung aufzunehmen, wurde von mehreren EU-Ländern blockiert, allen voran: Frankreich, Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Sie brachten technisch-juristisch Gründe gegen die Annahme des Vorschlags vor und argumentierten, Vergewaltigung sei kein „europäisches Verbrechen“. Andere traditionell konservative Länder wie Polen, Ungarn, Malta, die Tschechische Republik, Estland, Bulgarien und die Slowakei vertraten die gleiche Linie.
Das Europäische Parlament und mindestens ein Dutzend EU-Länder, darunter Belgien, Griechenland, Italien und Spanien, wollten eine Definition aufnehmen, die besagt, dass ohne eine explizite Zustimmung der Tatbestand einer Vergewaltigung gegeben sei. Vier spanische Abgeordnete gehörten dem Verhandlungsteam des Europäischen Parlaments an, und drei von ihnen sprachen sich dafür aus, die europäische Gesetzgebung mit den Standards in Ländern wie Spanien in Einklang zu bringen.
Die Staaten, die sich gegen eine Definition von Vergewaltigung in dem Text aussprachen, sagten, dass die EU in dieser Frage nicht zuständig sei. Die Kritiker der Vergewaltigungsdefinition argumentierten weiter, dass es keine Rechtsgrundlage für eine so geartete einheitliche Regelung im europäischen Recht gebe. Ein entsprechender Artikel wurde daher nicht in das Gesetz aufgenommen. Deutschland und Frankreich vertraten die Ansicht, dass die Aufnahme einer Definition das Risiko berge, dass sie durch ein EU-Gericht nach einer Anfechtung gekippt werden könnte.
Das Zögern, sich auf eine Definition von Vergewaltigung zu einigen, löste eine Kontroverse in Frankreich aus. Präsident Emmanuel Macron hatte erklärt, die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen werde eine Priorität seiner zweiten Amtszeit sein. Macron war aber schon in die Kritik geraten, als er die Unschuldsvermutung für den Schauspieler Gérard Depardieu verteidigt hatte, der wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung angeklagt ist.
Obwohl der Text keine Definition von Vergewaltigung enthält, werden die Mitgliedstaaten versuchen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass nicht-einvernehmlicher Sex eine Straftat darstellt, so das Europäische Parlament in einer Erklärung. Die Europäische Kommission muss alle fünf Jahre einen Bericht darüber vorlegen, ob die Regeln aktualisiert werden müssen, fügte sie hinzu.
Das Gesetz baut auf der Istanbul-Konvention auf
Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, erklärte gegenüber der tschechischen Nachrichtenagentur CTK, dass die Richtlinie in gewisser Weise die Istanbul-Konvention ersetze.
„Wir haben noch nie eine solche Richtlinie wegen Gewalt gegen Frauen gehabt. Sie ist auch eine Reaktion auf die Tatsache, dass nicht alle EU-Länder die Istanbul-Konvention ratifiziert haben, auf die ich seit Jahren als Schutz gegen Gewalt gegen Frauen und gegen häusliche Gewalt zähle.“
Věra Jourová, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, zuständig für Werte und Transparenz
Die für Werte und Transparenz zuständige Vizepräsidentin Jourová erklärte, sie verstehe nicht, warum die Tschechische Republik das Übereinkommen noch nicht ratifiziert habe. „Es tut mir leid. Ich denke, dass Panikmacher und die, die Desinformationen verbreiten, über den gesunden Menschenverstand gesiegt haben,“ sagte sie und fügte hinzu, dass die Tschechische Republik damit zu der Gruppe von Ländern gehört, „in denen die Kirche einen großen Einfluss hat und das Leben in das 19. Jahrhundert zurückdrehen möchte“.
Die Istanbul-Konvention erkennt Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung und Form der Diskriminierung von Frauen an. Sie verpflichtet ein Land, gesetzliche und andere Maßnahmen zu ergreifen, um einen rechtlichen, institutionellen und organisatorischen Rahmen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen sowie zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter zu schaffen.
Andere Länder, die die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert haben, sind Bulgarien, Ungarn, Lettland, Litauen und die Slowakei. Zum Vergleich: Das Nicht-EU-Mitglied Bosnien und Herzegowina hat die Istanbul-Konvention bereits im Jahr 2013 ratifiziert. Dementsprechend sollte geschlechtsspezifische Gewalt in diesem Land strafbar sein.
In ganz Europa gibt es weiterhin Gewalt gegen Frauen
Trotz der Zusagen, die Istanbul-Konvention umzusetzen, wurde Bosnien und Herzegowina im vergangenen Jahr von einer Häufung an Morden an Frauen erschüttert. Nach dem jüngsten Mord im Norden des Landes demonstrierten Tausende von Bürgern friedlich. Es wurde ein Trauertag ausgerufen. Den größten Aufschrei in der Öffentlichkeit löste ein Dreifachmord im August aus, bei dem der Täter seine Frau tötete, und die Tat live in sozialen Medien übertrug. In einem weiteren Video behauptete er, er habe noch zwei weitere Frauen getötet.
Auch im übrigen Europa sind Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt nach wie vor ein großes Problem.
„Es handelt sich um ein systemisches Problem, das tief in den sozialen Strukturen verwurzelt ist und in vielen Fällen das Versagen des Schutzsystems widerspiegelt, das die Sicherheit und Unversehrtheit der Hälfte der Bevölkerung des Landes gewährleisten sollte.“
Raisa Enachi, Vorsitzende des Ausschusses für die Chancengleichheit von Frauen und Männern in der rumänischen Abgeordnetenkammer
Nach den neuesten Daten des slowenischen Statistikamtes ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen Opfer von Gewalt in einer intimen Beziehung werden, drei Mal so hoch wie bei Männern. Frauen sind zudem häufiger Opfer von schweren Formen der Gewalt. Die slowenische Polizei bearbeitet jährlich etwas mehr als 1.000 Fälle von Verbrechen mit Elementen häuslicher Gewalt. Mehr als 90 Prozent der Täter sind männlich. Bei den Opfern handelt es sich überwiegend um Frauen und Kinder, wie der Verein SOS-Hotline für Frauen und Kinder, die Opfer von Gewalt wurden, mitteilte.
Der Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Sofia, Boyko Blagoev, zitierte Eurostat-Daten, die zeigten, dass 21 Prozent der Frauen in Bulgarien, die jemals eine Beziehung hatten, im Laufe ihres Erwachsenenlebens Gewalt in der Partnerschaft erlebt haben. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Mariya Gabriel sagte im Januar, dass im Jahr 2023 mehr als 20 Frauen in Bulgarien von Männern getötet worden seien. Die Zahl der registrierten Fälle von häuslicher Gewalt liege bei fast 1.400, fügte sie hinzu.
Im September letzten Jahres beschloss die bulgarische Regierung, Gabriel zum Vorsitzenden des Nationalen Rates für Prävention und Schutz vor häuslicher Gewalt zu ernennen, dessen Mitglieder von der Regierung am 7. Februar 2024 ernannt wurden. Der Rat setzt sich aus Ministern, Vertretern von Regierungsbehörden und Nichtregierungsorganisationen zusammen und befasst sich mit der Umsetzung der staatlichen Politik zur Bekämpfung häuslicher Gewalt.
Damit die EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft treten kann, muss sie noch von den Ministern der Mitgliedstaaten gebilligt und vom Plenum des Europäischen Parlaments verabschiedet werden. Es wird erwartet, dass dieser Prozess ohne Probleme vonstatten geht. . Die Vizepräsidentin der Kommission, Věra Jourová, rechnet damit, dass die Richtlinie bis Ende April endgültig verabschiedet wird.
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