EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat auf Hilferufe der italienischen Regierung reagiert und Mitte September die Mittelmeerinsel Lampedusa besucht. Tags darauf ging in Sozialen Netzwerken eine Behauptung viral: Der Grenzschutz der Europäischen Union im Mittelmeerraum sei außer Betrieb genommen worden. «Deaktiviert», nennen Nutzer sozialer Netzwerke das und teilen dazu ein Video mit der Titelzeile: «Die Grenzen sind offen». In einzelnen Posts heißt es sogar, die Länder der Europäischen Union seien sowieso nicht mehr souverän. Während Politiker fast jeden Tag ein schärferes Vorgehen gegen Migranten fordern, soll die EU also ihren Grenzschutz stillgelegt haben. Was ist dran an diesem Gerücht?

Bewertung

Die Behauptung ist falsch. Nach wie vor ist die EU-Agentur Frontex mit dem Schutz der europäischen Außengrenzen beauftragt. Zudem ist die Europäische Union dabei, ihr Asylsystem einmal mehr zu reformieren und dabei zu verschärfen. Von der Leyen kündigte an, Italien bekomme EU-Hilfe beim Vorgehen gegen die Fluchtrouten über das Mittelmeer und bei der Rücksendung von Migranten.

Fakten

Die Behauptungen tauchten fast zeitgleich mit dem Besuch von der Leyens auf Lampedusa auf. Die Kommissionspräsidentin hat dort aber keine Deaktivierung des EU-Grenzschutzes angekündigt – ganz im Gegenteil. Die Maßnahmen eines 10-Punkte-Plans, die von der Leyen anlässlich der Reise verkündete, zielen eher auf eine Verschärfung der Abwehrmechanismen. Außerdem soll Frontex den Italienern bei der Rückführung von Menschen helfen, die ohne gültige Papiere eingereist sind.

Unter anderem soll die Überwachung der EU-Außengrenze auf See und aus der Luft verstärkt werden, sagte die Kommissionspräsidentin auf Lampedusa. «Wir können dies über Frontex tun», fügte von der Leyen hinzu.

EU arbeitet in der Asylpolitik schon länger zusammen

Grundlage für die EU-Zusammenarbeit in Asyl- und Migrationsfragen ist seit 1999 das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Es sieht Mindeststandards für den Ablauf von Asylverfahren und den Umgang mit Asylsuchenden in allen Mitgliedsstaaten vor. Darin zusammengefasst sind aktuelle Vorschriften und Verordnungen, die im Juni 2013 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurden.

Dazu gehört die Dublin-Verordnung. Sie legt fest, dass Asylbewerber dort registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten. Das entsprechende Land ist dann auch für den Asylantrag zuständig. Inzwischen gilt die Dublin-III-Verordnung, die 2013 in Kraft trat. Reist ein Flüchtling illegal weiter und stellt seinen Antrag in einem anderen Staat, kann er von dort in das Land der ersten Einreise zurückgeschickt werden.

Zum GEAS gehört die EURODAC-Verordnung, die eine Datenbank mit Fingerabdrücken zur Kontrolle der Umsetzung der Dublin-Verordnungen enthält. Dazu kommen Richtlinien zu AufnahmeAsylverfahren und Qualifikation mit Vorgaben, wer überhaupt als Flüchtling gilt.

Zahl der Asylbewerber stieg in den ersten Monaten 2023

Seit einigen Monaten kommen wieder deutlich mehr Asylbewerber in die EU als zuvor. In den ersten acht Monaten im Jahr 2023 haben allein Deutschland, das in dem Post besonders erwähnt wird, 204 461 Menschen erstmals Asyl beantragt. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 waren es mit 217 774 Asylerstanträgen nur wenig mehr.

Da seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine außerdem mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland aufgenommen wurden, fehlt es vielerorts an Wohnraum. Engpässe sind teilweise auch bei der Gesundheitsversorgung sowie in Schulen und Kitas spürbar.

Agentur Frontex übernimmt Grenzschutz-Aufgaben

Bei der Europäischen Grenz- und Küstenwache arbeiten nach Angaben des Europäischen Parlaments die EU-Agentur Frontex und nationale Behörden zusammen. Diese Kooperation begann im Oktober 2016. Die Agentur Frontex ist beauftragt, die EU-Außengrenzen zu überwachen und mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um potenzielle Bedrohungen an den Außengrenzen der EU zu erkennen und abzuwehren.

«Hunderte Grenzschutz- und Küstenwachebeamte sind für Frontex mit Schiffen, Einsatzfahrzeugen, Flugzeugen und anderer Ausrüstung im Einsatz, um die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung von Herausforderungen an den Außengrenzen der EU zu unterstützen», erklärt Frontex in einer aktuellen Selbstdarstellung. Von einer Deaktivierung des EU-Grenzschutzes ist also keine Rede.

GEAS-Reform mit schärferen Regeln ist in Arbeit

Im Juni 2023 haben sich die EU-Innenminister auf Kernpunkte einer GEAS-Reform geeinigt. Insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive ist darin vorgesehen. Ankommende Menschen aus als sicher eingestuften Ländern sollen künftig unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. In den Aufnahmeeinrichtungen soll dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

An der Reform wird seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 intensiv gearbeitet. Damals waren Länder wie Griechenland mit Flüchtlingen aus Staaten wie dem Bürgerkriegsland Syrien überfordert. Hunderttausende zogen unregistriert in andere EU-Staaten weiter. Die noch ausstehenden Verhandlungen mit dem EU-Parlament sollen im Idealfall vor Ende des Jahres abgeschlossen werden. Dann könnten die Gesetze noch vor der Europawahl im Juni 2024 beschlossen werden.

EU-Mitgliedstaaten haben ihre Souveränität gebündelt

Bleibt noch die Behauptung eines Luxemburger Nutzer, die EU-Staaten seien schon längst nicht mehr souverän. Tatsächlich haben die Mitgliedstaaten «freiwillig einen Teil ihrer Souveränität an die EU abgegeben», stellte das Luxemburger Parlament in einer Veröffentlichung fest, die als Lehrmaterial an Schulen gedacht ist. Dennoch können die Länder weiter eigenständige Entscheidungen treffen – und sogar aus der EU austreten, wie das Beispiel Großbritanniens zeigt.

Die EU-Staaten haben ihre Souveränität in einem kooperativen Staatenbund «gezielt und zweckorientiert gebündelt», wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn bereits vor einigen Jahren erläuterte. «Staatliche Souveränität wird also nicht durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union eingeschränkt, sondern sie wird dadurch bewahrt», sagte Asselborn seinerzeit in einem Vortrag an der Universität Bern.

Links

von der Leyen besucht Lampedusa (archiviert)

von der Leyens 10-Punkte-Plan (archiviert)

Luxemburger Parlament zur Souveränität (archiviert)

Rede Jean Asselborn (archiviert)

bpb zum GEAS (archiviert)

Dublin-III-Verordnung (archiviert)

EURODAC-Verordnung (archiviert)

Aufnahme-Richtlinie (archiviert)

Asylverfahrens-Richtlinie (archiviert)

Qualifikations-Richtlinie (archiviert)

Entwicklung der Asylanträge in der EU (archiviert)

Asylgeschäftsstatistik August 2023 (archiviert)

Asylgeschäftsstatistik Gesamtjahr 2022 (archiviert)

Europäisches Parlament zum Schutz der EU-Außengrenzen (archiviert)

Webseite von Frontex (archiviert)

Selbstdarstellung Frontex (archiviert)

Bundesinnenministerium zur GEAS-Reform (archiviert)

EU-Rat zur GEAS-Reform (archiviert)

Beitrag bei Facebook (archiviertVideo archiviert)

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