Der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell Fontelles, bezeichnete etwa fünf Monate vor den EU-Wahlen Desinformation und ausländische Einflussnahme als „eine der größten Bedrohungen unserer Zeit“.

„2024 ist ein entscheidendes Jahr für den Kampf gegen FIMI (Manipulation und Einflussnahme aus dem Ausland), da viele Wahlen stattfinden werden“, so Borrell am 23. Januar in Brüssel. Er fügte hinzu, dass in diesem Jahr 60 Wahlen abgehalten werden – rund die Hälfte der Weltbevölkerung wird an die Urnen gerufen. 

Borrell warnte davor, “dass Manipulation und Einflussnahme zu einer Industrie geworden sind” und dass Russland und andere bereits “eine umfangreiche Infrastruktur an Lügen, Manipulation und Destabilisierung aufgebaut” hätten. Er betonte auch, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur gegen uns gerichtet ist, “sondern auch gegen unsere Partner auf dem westlichen Balkan”.

Die französische Regierung warnte (knapp drei Wochen später), am 13. Februar, dass Fehlinformationen aus Ländern wie Russland vor den Europawahlen im Juni “wahrscheinlich zunehmen werden”.

Laut dem zweiten FIMI-Bericht des diplomatischen Dienstes der EU (EAD) ist die Ukraine am stärksten von Desinformation betroffen. In der Analyse wurden 750 Vorfälle zwischen Dezember 2022 und November 2023 untersucht. 

Russische Desinformation vor der Europawahlen nimmt zu 

Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, erklärte am 23. Februar gegenüber der tschechischen Nachrichtenagentur CTK, dass die größten Risiken für Desinformation in den mittel- und osteuropäischen Ländern bestehen. Wir befinden uns in einem Informationskrieg mit Russland, den wir nicht begonnen haben, auf den wir aber leider reagieren müssen”. 

„In jedem Land existieren verschiedene Schwachstellen, die ausgenutzt werden können, um Menschen dazu zu bringen, Fehlinformationen zu glauben oder in einen Kreislauf aus Panik oder Angst zu versetzen.“ „Leider könnte dies besonders im Wahlkampf ausgenutzt werden. Ich denke, wir sollten das verhindern.“ sagte Jourová abschließend.

Die weitläufige Verbreitung pro-russischer Desinformation hat sich auf die Wahlen in Europa ausgewirkt. Die Angst vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni wächst. 

Valentin Châtelet, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Atlantic Council’s Digital Forensic Research Lab (DFRLab), warnt vor Desinformationskampagnen zur Ukraine und zu anderen aktuellen europäischen Themen, die dazu führen, eine konservative oder nationalistische Agenda zu fördern.

Durch eine umfangreiche „pro-russische Desinformationskampagne“ wurden seit Dezember 2023 in Deutschland mehr als 50.000 gefälschte X-Accounts (früher Twitter) eingerichtet. Sie sollen Wut über Deutschlands Unterstützung für die Ukraine schüren, berichtet das deutsche Wochenmagazin Der Spiegel. 

Das russische Verteidigungsministerium behauptete im Januar bei einem Angriff in der ostukrainischen Stadt Charkiw rund 60 Kämpfer, hauptsächlich „französische Söldner“, „vernichtet zu haben”.

Im Anschluss an diese Anschuldigungen wurden über Telegram-Kanäle und Kreml-nahe Aktivisten mehrere Listen verbreitet. Eine dieser Listen enthielt angeblich die Identität von rund 30 „toten französischen Söldnern“. Französische Freiwillige in der Ukraine wiesen die Vorwürfe zurück, wie drei von ihnen gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP erklärten. 

Frankreich, Deutschland und Polen gehen gegen russische Desinformation vor 

Deutschland, Frankreich und Polens Außenminister kündigten am 12. Februar an, gemeinsam Maßnahmen gegen Desinformation zu ergreifen. Zuvor waren sie Russlands Destabilisierungsstrategie zum Opfer gefallen. 

Die drei Länder haben sich auf ein gemeinsames Frühwarnsystem gegen russische Troll-Angriffe geeinigt, erklärte der französische Außenminister Stéphane Séjourné nach dem Treffen mit Außenministerin Annalena Baerbock und dem polnischen Kollegen Radosław Sikorski.

„Russland versucht, die europäische Geschlossenheit zu zerstören“, sagte Séjourné nach dem Dreiertreffen. Er fügte hinzu, dass fast 200 gefälschte Nachrichtenseiten aufgespürt worden seien.

„Ich rufe zu äußerster Vorsicht auf“, warnte Séjourné in einer direkten Ansprache an die Öffentlichkeit und fügte hinzu, dass solche Angriffe auf Informationen in Europa in den nächsten Wochen zunehmen könnten. 

„In fünf Monaten finden auf unserem Kontinent die Europawahlen statt, und jedes unserer Länder wird ein Ziel für ausländische Einflüsse sein“, sagte Séjourné in einem Video, das am 13. Februar auf X (früher Twitter) veröffentlicht wurde. 

Kreml- Propagandanetzwerk in Frankreich entdeckt

Der französische Außenminister Stéphane Séjourné hat bekannt gegeben, dass die französische Regierungsbehörde Viginum, ein Netzwerk russischer Webseiten, entdeckt hat. Es zielt darauf ab, Kreml-Propaganda im Westen zu verbreiten.

Die Behörde, die mit der Abwehr ausländischer Online-Bedrohungen beauftragt ist, bezeichnete das Netzwerk als „strukturiert und koordiniert“ und es richtete sich vor allem gegen Europa und die Vereinigten Staaten. Das System mit dem Codenamen „Portal Kombat“ besteht aus 193 Websites, wie Viginum nach einer umfassenden Untersuchung zwischen September und Dezember letzten Jahres berichtete.

Das Ziel dieser größtenteils inaktiven Webseiten ist es, Desinformationen und Ansichten zu verbreiten, die den Interessen Russlands dienen, berichtet Séjourné. „Sie verbreiten falsche Informationen über die Ukraine, spalten die öffentliche Meinung und schüren Hass“, fügte er hinzu.

Seit der Invasion von Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 hat die russische Regierung ihre Bemühungen erhöht, das Kreml-Narrativ zu stärken.

Politischen Fachexperten zufolge könnte Moskau versuchen, die politischen Spannungen in Europa auszunutzen. Rechtsextreme Parteien verzeichnen im Vorfeld der, vom 6. – 9.Juni stattfindenden Wahlen einen starken Aufschwung.

In Frankreich ist die rechtsorientierte National Rally (RN) bereits die größte Oppositionspartei in der französischen Regierung und führt in Umfragen zu den Europawahlen mit fast zehn Prozent Vorsprung vor dem Bündnis von Präsident Emmanuel Macron.

Legislative elections in Portugal
Eine Frau gibt ihre Stimme in einem Wahllokal in einer ländlichen Gemeinde bei den Parlamentswahlen in Portugal ab. Foto: Cristian Leyva/ZUMA Press Wire/dpa

Gefälschte Wahlwerbung verbreitet sich in Portugal

Ein weiteres Beispiel für die zunehmende Verbreitung von digitaler Desinformation ist Portugal. Forscher des MediaLab der Universität Lissabon (ISCTE) haben erstmals „Anzeichen für eine äußere Einflussnahme auf die Wahlen in Portugal“ durch Onlinewerbung entdeckt. In einer dieser Werbungen wurde die Sozialistische Partei (PS,S&D) der Korruption beschuldigt.

Eine von den ISCTE-Forschern durchgeführte Untersuchung deutet auf ein Unternehmen namens Nekoplay LLC hin, das offenbar im US-Bundesstaat Delaware ansässig ist. Dabei wurden die Google-eigenen Screening-Tools verwendet. Laut den öffentlich zugänglichen Daten von „Google’s Ad Transparency Center“ ist das Unternehmen hauptsächlich für Werbung im Zusammenhang mit der Glücksspielindustrie bekannt.

Insgesamt könnten die „gesponserten Posts“ mehr als zwei Millionen Portugiesen erreicht haben. Das entspricht “ungefähr 22 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung“, wie es in dem Bericht des MediaLab heißt. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit der portugiesischen Nachrichtenagentur Lusa durchgeführt und beschäftigt sich mit Wahlen in sozialen Netzwerken und Desinformationsprozessen im Vorfeld der Parlamentswahlen am 10. März.

Dieser Artikel ist Teil von enr’s EU Elections Spotlight: Desinformation in Europa. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der am enr beteiligten Agenturen.