Nach dem Mobilmachungsbefehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin hat China die Kriegsparteien zu Friedensgesprächen aufgefordert. Doch in den sozialen Medien heißt es, China sei nun angeblich in den Krieg eingetreten. Ein US-Radiomoderator verbreitete diese Behauptung zu Bildern eines Militärkonvois, der chinesische Truppen in der Ukraine zeigen soll. Entsprechende Beiträge wurden anschließend auch in Europa geteilt. Eine aufwendige Geolocation verortet die Aufnahme jedoch Tausende Kilometer entfernt von den Grenzen der Ukraine.
Bewertung
Das chinesische Militär ist nicht in die Ukraine eingerückt. Das Video zeigt einen Konvoi im Osten Russlands: Fahrzeuge auf dem Weg zur Militärübung «Wostok», die im August mehrere Tausend Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze abgehalten wurde.
Fakten
Das Video stammt offenbar von einer Handykamera und wurde aus der Perspektive des Gegenverkehrs gefilmt. Wegen der schlechten Videoqualität und der verwackelten Perspektive lassen sich nur schwer Details erkennen.
Die Nummernschilder der in der Gegenrichtung fahrenden Personenwagen sind jedoch definitiv nicht ukrainisch. Es handelt sich auch nicht um Nummernschilder, die von den Volksrepubliken Donezk oder Luhansk ausgegeben werden. Die Nummernschilder sind russisch; das Polizeifahrzeug hinter dem Konvoi gehört zur russischen Militärpolizei, wie man am schwarzen Nummernschild erkennt.
Obwohl das Video unscharf ist, kann man bei vier der fünf zivilen Autos erkennen, dass die Zahl «25» oder «125» in einem separaten Feld im rechten Teil des Nummernschilds steht. Dies bezieht sich auf den Kraj Primorski, eine Region im Osten Russlands. Natürlich sind Autos beweglich. Doch erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass in etwa einer Minute vier Autos aus einer Region in der Nähe des Pazifischen Ozeans auf einer Landstraße in der rund 7 000 Kilometer entfernten Ukraine gefilmt werden.
Video mit Pressemitteilung über Armeeübung hochgeladen
Die früheste veröffentlichte Version des Videos, die die Deutsche Presse-Agentur (dpa) finden konnte, stammt vom 30. August 2022. Der Nutzer, der das Video online gestellt hat, teilt als Beschreibung eine Pressemitteilung über die Teilnahme der chinesischen Armee an der Armeeübung «Wostok». Sie fand vom 30. August bis 5. September 2022 in Kraj Primorski im Osten Russlands statt. Aus dieser Region stammen auch die Nummernschilder der zivilen Autos im Video.
Russland hatte im Juli 2022 angekündigt, dass es die Militärübung abhalten werde. Sie fand an verschiedenen Orten im Osten des Landes statt. Auch chinesische Truppen nahmen teil. An den vorigen Wostok-Übungen im Jahr 2018 waren fast 300 000 Soldaten beteiligt – darunter waren ebenfalls chinesische Soldaten.
Nichtsdestotrotz teilte die Hal Turner Radio Show, die schon häufiger mit Falschnachrichten auffiel, fast drei Wochen später die gleichen Bilder der Fahrzeuge unter der Überschrift: „Chinesischer Militärkonvoi dringt von Russland aus in die Ukraine ein“. Diese Behauptung griffen europäische Nutzer sozialer Netzwerke auf.
Zugverkehr liefert Hinweise
Wo aber wurde das Video aufgenommen, wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus der Ukraine stammt? Ein anderes Video, das am 29. August auf der Website von TV Zvezda, dem Medienkanal des russischen Verteidigungsministeriums, veröffentlicht wurde, zeigt das Entladen chinesischer Militärausrüstung an einem russischen Bahnhof. Bei 0:06 ist zu erkennen, dass es sich um den Bahnhof Grodekovo handelt. Diese Station befindet sich in Pogranitschny, einer Stadt mit rund 10 000 Einwohnern an der Grenze zu China.
Es ist zwar nicht sicher, dass es sich um dieselben Truppen handelt. Doch es gibt Elemente, die sich in den beiden Videos gleichen. Bei 0:10 in diesem Video ist ein chinesischer Tanklastwagen mit denselben Schildern zu sehen wie bei 0:39 im Facebook-Video. Bei 0:16 sind dieselben Fahrzeuge der russischen Militärpolizei wie am Ende der auf der Straße gefilmten Kolonne zu sehen.
Aus dem Zug rollen ähnliche Last-, Panzer- und Geländewagen wie die im Facebook-Video zu sehenden Fahrzeuge. Ab 1:39 kann man auch sehen, dass diese Fahrzeuge die gleichen hellen Nummernschilder haben und mit vier Blinklichtern fahren – wie in der Kolonne. Der große rote Kran bei 2:16 findet sich hier ebenfalls wieder. Auf dem Weg vom Bahnhof zum «Wostok»-Trainingsgelände ist es möglich, dass die Kolonne die Ulitsa Lenina (Leninstraße) passierte.
Die Ulitsa Lenina 60 in Pogranichniy
Zu Beginn des Videos ist ein Gebäude mit braun-orangefabener Fassade mit zwei weißen Fensterrahmen, einer Klimaanlage und einem Spitzdach zu sehen, vor dem sich Bäume und ein Parkplatz befinden. Auf der Satellitenansicht von Google Maps scheint das Gebäude in der Ulitsa Lenina 60 dieser Beschreibung perfekt zu entsprechen. Es befindet sich auf der rechten Straßenseite, als die Kolonne vom Bahnhof wegfährt. Das ergibt Sinn, da das Video vor der Übung aufgenommen wurde und die Kolonne somit auf das Übungsgelände zusteuert.
Street View ist in diesem Teil Russlands nicht verfügbar, aber auf der Website 2gis.ru ist ein Bild des Gebäudes zu finden. Die quadratischen weiß gerahmten Fenster, der Rasen und die Birken vor dem Gebäude, der Kies neben der Straße auf der anderen Straßenseite, der Parkplatz neben dem Gebäude und die weißen Bögen (im Video schwer zu erkennen) stimmen mit dem überein, was im Video zu sehen ist.
Ein weiteres Youtube-Video eines Mannes, der Pogranitschny im Jahr 2016 besuchte, zeigt ein zusätzliches Detail. Das Gebäude in der Ulitsa Lenina 60 ist dort in der Minute 2:16 zu sehen. Deutlich erkennbar sind die beiden Fenster und die Klimaanlage an der Seitenfassade, die auch im Kolonnenvideo zu sehen sind. Bei Minute 2:20 taucht ein rundes Schild auf. Dies ist auch in dem Video auf Facebook ganz am Anfang, auf der linken Seite des Bildes, zu sehen.
Ein Videobericht über eine Fahrt von Wladiwostok nach Pogranitschny im September 2021 gibt weitere Hinweise. Bei 05:07 ist das gleiche Gebäude zu sehen. Da dieses Video zur gleichen Jahreszeit gedreht wurde, ist es leicht zu erkennen, dass es sich um dieselben Bäume handelt. Einen Moment später ist links zwischen den Bäumen ein blaues Dach zu sehen, das mit dem übereinstimmt, das im Kolonnenvideo bei 00:15 zwischen den Bäumen zu sehen ist. Die Laternenpfähle, die in Minute 05:11 zu sehen sind, sind das gleiche Modell wie die, die am Anfang des Videos zu sehen sind.
Diese Ortsbestimmung (Geolocation), die zuerst in einem niederländischen dpa-Faktencheck erschien, liefert also den Beweis: Das Video zeigt Fahrzeuge mit Soldaten auf dem Weg zu einer Übung. Es wurde eindeutig in einer kleinen Stadt an der Grenze zwischen China und Russland gedreht – und zwar in einer Region am Pazifischen Ozean, weit entfernt von der ukrainischen Grenze.
Links
Ukrainische Nummernschilder (archiviert)
Chinesische Militärfahrzeuge hier, hier und hier (archiviert: hier, hier und hier)
Nummernschilder aus Donezk, Luhansk und Russland (archiviert: hier, hier und hier)
Militärpolizei Russland (archiviert)
Informationen über russische Nummernschilder (archiviert)
RND-Bericht über Forderung von China nach Friedensgesprächen (archiviert)
RND-Bericht über Militärübung Wostok (archiviert)
NATO-Bericht über Militärübung Wostok 2018 (archiviert)
Video auf Youtube (archiviert)
Video auf Twitter (archiviert)
Video TV Zvezda (archiviert, archiviertes Video)
Foto des Bahnhofs Grodekovo (archiviert)
Bahnhof Grodekovo (archiviert)
Standort roter Kran (archiviert)
Pogranitschny im Jahr 2016 (archiviert)
Road Trip im Jahr 2021 (archiviert, archiviertes Video)
Deutscher Facebook-Post (archiviert)
Niederländischer Facebook-Post, archiviert
Hal Turner Radio Show (archiviert)
Faktenchecks zur Hal Turner Radio Show hier, hier, hier und hier
dpa-Geolocation auf Niederländisch
Über dpa-Faktenchecks
Mehr Faktenchecks von dpa finden Sie auf der Seite dpa-factchecking.com. Über die Grundsätze unserer Arbeit informieren wir hier.
Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte an faktencheck@dpa.com.
Schon gewusst?
Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.