Was treibt junge Menschen dazu, ihre Sachen zu packen und ihr Geburtsland zu verlassen? Laut Eurostat-Zahlen aus dem Jahr 2023 sind in der EU 14,2 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren nicht in dem Land geboren, in dem sie derzeit leben. 11,9 Prozent leben in einem anderen Land als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.
Die Ursachen für diesen Trend ähneln sich – wirtschaftliche Schwierigkeiten und ein empfundener Mangel an Möglichkeiten gehören zu den Hauptgründen, warum junge Menschen in ein anderes Land ziehen. Dies gilt für EU-Bürgerinnen und Nicht-EU-Bürger gleichermaßen. Für letztere birgt ein Neustart in der EU jedoch auch größere Risiken.
Brain drain: Wenn das Wissen abfließt
Die Abwanderung junger Menschen und die Abwanderung von Fachkräften in seinem Land werde durch niedrige Löhne und die Wohnungskrise verursacht, erklärte etwa der portugiesische Soziologe Rui Pena Pires. In einem Interview der Nachrichtenagentur Lusa sagte der wissenschaftliche Leiter der Beobachtungsstelle für Auswanderung, dass „der Unterschied bei den Gehältern und den beruflichen Aussichten“ die Hauptursache für die Auswanderung von Portugiesinnen und Portugiesen sei, insbesondere von jüngeren Menschen. Nach portugiesischen Angaben verlassen rund 30 Prozent der Menschen zwischen 15 und 39 das Land.
Auch in Slowenien nennen junge Menschen den Wohnungsmangel, unsichere wirtschaftliche Verhältnisse, niedrige Löhne und fehlende Karrieremöglichkeiten als Hauptgründe für ihre Unzufriedenheit – obwohl sie oft die Lebensqualität in ihrem Heimatland loben. Die Gesamtzahlen sind zwar gering, aber für ein Land mit nur 2,1 Millionen Einwohnern dennoch beachtlich: Im Jahr 2023 verließen rund 1.500 Sloweninnen und Slowenen zwischen 15 und 29 Jahren das Land.
Im benachbarten Italien erwägen viele junge Menschen ebenfalls eine Zukunft im Ausland. Mehr als 300.000 Italienerinnen und Italiener, die sich in den vergangenen zehn Jahren im Ausland niedergelassen haben, waren nach Angaben des nationalen Statistikinstituts ISTAT zwischen 25 und 34 Jahre alt.
Sie begründen ihre Entscheidung mit den niedrigen Gehältern, der Diskrepanz zwischen den Jobangeboten und ihren Qualifikationen und der nicht zufriedenstellenden Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. In dieser Gruppe nimmt der Anteil der Hochschulabsolventen zu. „Es ist nicht normal, dass unser Land sich nicht die Frage stellt, warum das so ist, und nichts gegen dieses Ausbluten unternimmt,“ klagte Renato Brunetta, Präsident des Nationalen Wirtschafts- und Arbeitsrates (CNEL), bei der Vorstellung eines Berichts zu diesem Thema.
Anhand einer Stichprobe in zehn – hauptsächlich europäischen – Ländern lasse sich schätzen, dass für jede junge Ausländerin oder Ausländer, die sich in Italien niederlassen, fast neun junge Italienerinnen oder Italiener das Land verlassen. Die Jugendarbeitslosenquote lag im November 2024 bei 19,2 Prozent und damit höher als der EU-Durchschnitt der unter 25-Jährigen (15,3 Prozent).
In Bulgarien studieren zwischen 8 und 10 Prozent der Schulabgänger im Ausland, wobei die meisten von ihnen in EU-Länder wie die Niederlande, Belgien, Italien und Spanien gehen. Allerdings hat das Land auch einen Anteil von etwa 10 Prozent ausländischen Studierenden, die wegen der relativ niedrigen Studiengebühren und Lebenshaltungskosten nach Bulgarien kommen.
Ein schnelleres Wirtschaftswachstum – zumindest im Vergleich zum EU-Durchschnitt – kann solche Bevölkerungsbewegungen beeinflussen. Die seit dem EU-Beitritt Kroatiens 2013 zunächst starke Abwanderung hat sich beispielsweise in den letzten Jahren verlangsamt. Dennoch waren von den 373.935 Personen, die nach Angaben des kroatischen Zentralamts für Statistik zwischen 2014 und 2023 auswanderten, die größte Gruppe zwischen 20 und 39 Jahre alt.
Unter Wirtschaftswissenschaftlern herrscht Einigkeit darüber, dass die Auswanderung eng mit dem Entwicklungsstand eines Landes zusammenhängt. Es erscheint ganz natürlich, dass vor allem junge Menschen versuchen, ihre Träume und Ambitionen zu verwirklichen, indem sie in höher entwickelte Länder gehen.
Nach Ansicht des kroatischen Ökonomen Velimir Šonje lasse sich dies am besten an zwei Beispielen verdeutlichen: Irland und Polen, die einst Auswanderungsländer waren, aber durch ihr Wirtschaftswachstum zu Ländern mit einer positiven Migrationsbilanz geworden sind. Es wandern nun mehr Menschen zu als ab. Einigen Analysten zufolge beginne sich ein Trend dann umzukehren, wenn das Land etwa 80 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftsentwicklung der EU erreiche, fügte Šonje hinzu. Kroatien habe sich diesem Wert bereits angenähert und liege bei 78 Prozent des europäischen Durchschnitts.
Zuzug in die EU
Das EU-Kandidatenland Nordmazedonien verliert derzeit den Kampf gegen den Braindrain. Eurostat-Daten zufolge sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten mindestens 200.000 Menschen, also fast 10 Prozent der Gesamtbevölkerung des kleinen Balkanstaates, in andere europäische Länder ausgewandert.
Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren für Bürgerinnen und Bürger aus Nordmazedonien vor allem die westlichen EU-Staaten Deutschland, Italien und Österreich sowie das Nicht-EU-Mitglied Schweiz beliebte Zielländer. Aber auch EU-Staaten, die näher an Nordmazedonien liegen, wie Slowenien, Kroatien und Bulgarien, verzeichneten in den letzten Jahren mehr Zuwanderung aus Nordmazedonien.
Die Abwanderung führt zu einem zunehmenden Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften in Bereichen wie Wissenschaft und Forschung. Nach Angaben des Weltwirtschaftsforums (WEF) hat Nordmazedonien eine der höchsten Abwanderungsraten der Welt. Junge Menschen seien enttäuscht über das Ausmaß der Korruption im Land sowie über den Mangel an Möglichkeiten und Perspektiven.
In Bosnien und Herzegowina meldeten 2023 offiziell 2.777 Personen ihren Wohnsitz ab, um auszuwandern, wobei Deutschland, Österreich, Slowenien und Kroatien nach offiziellen Angaben die häufigsten Ziele sind. Obwohl diese Zahlen nicht die Gesamtzahl der Auswanderer widerspiegeln, bestätigen sie einen Trend, der Sorgen bereitet.
Darüber hinaus ergab eine Umfrage des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), dass fast ein Viertel der jungen Menschen in Bosnien und Herzegowina ernsthaft darüber nachdenkt, das Land dauerhaft zu verlassen, während 23 Prozent über eine vorübergehende Auswanderung nachdenken. Fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, niedrige Löhne, Unsicherheit über die Zukunft, Korruption und politische Instabilität seien die Hauptgründe für ihre Entscheidungen.
Expertinnen und Experten warnen, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen, um bessere Bleibebedingungen für junge Menschen zu schaffen, da dieser Trend die Demografie und das wirtschaftliche Potenzial des Landes beeinträchtigt. Eine wichtige Initiative in dieser Hinsicht ist die Jugendgarantie, ein Programm der Europäischen Union, das jungen Menschen unter 30 innerhalb von vier Monaten nach Abschluss ihrer Ausbildung oder nach Verlust ihres Arbeitsplatzes Möglichkeiten für Beschäftigung, Ausbildung, Praktika oder Traineeships bietet.
Zusätzlich zu solchen Initiativen seien aber umfassendere Reformen in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Arbeitsmarkt erforderlich, um langfristig nachhaltige Bedingungen für den Verbleib junger Menschen zu schaffen und einen weiteren Bevölkerungsrückgang zu verhindern.
Die Erasmus-Jahre
Die EU selbst war eine wichtige Triebkraft bei der Förderung der Mobilität von jungen Menschen. Am bekanntesten ist Erasmus+, das 1987 als Austauschprogramm für Studierende im Hochschulbereich ins Leben gerufen wurde. Den Statistiken des Programms zufolge haben bis dato rund 16 Millionen Menschen daran teilgenommen. Seit der Gründung wurden die Teilnahmemöglichkeiten unter anderem für Auszubildende, Jugendarbeiterinnen und -arbeiter sowie Sporttrainerinnen und -trainer geöffnet. Für den Zeitraum 2021-2027 wurden rund 26,2 Milliarden Euro für Erasmus+ bereitgestellt.
Nicht immer willkommen
Wenn Nicht-EU-Bürgerinnen und Bürgern in die EU ziehen, trägt dies jedoch nicht immer dazu bei, ihre Situation zu verbessern. Mit 47,2 Prozent waren junge Nicht-EU-Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2023 doppelt so häufig von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht wie Jugendliche, die in ihrem Heimatland leben (21,8 Prozent). Dies zeigen Eurostat-Daten. Außerdem lag ihre Arbeitslosenquote in den 27 Mitgliedstaaten bei 15,1 Prozent, verglichen mit 10,9 Prozent für junge EU-Bürgerinnen und Bürger.
Da das Thema Migration in der gesamten EU nach wie vor ein heißes Eisen ist, sehen sich junge Migrantinnen und Migranten – selbst gut ausgebildete – oft mit Rassismus und Ablehnung konfrontiert, was diese Probleme noch verschlimmert.
Frankreichs Premierminister François Bayrou zum Beispiel wurde Anfang dieser Woche sogar von seinen eigenen Verbündeten für die Aussage kritisiert, es gebe zunehmend das Gefühl, dass Frankreich von Einwanderern „überschwemmt“ werde.
Beiträge von Ausländern seien positiv für ein Volk, solange sie “einen gewissen Rahmen” nicht überschritten, sagte Bayrou dem Sender LCI. „In dem Moment, in dem man das Gefühl hat, überschwemmt zu werden, sein Land nicht mehr wiederzuerkennen, die Lebensweise oder die Kultur nicht mehr wiederzuerkennen, in dem Moment lehnt man das ab.“
In Frankreich ist die Jugendmigration aus Nicht-EU-Ländern stark von afrikanischen Einwanderern geprägt, von denen viele einen Ausweg aus der endemischen Arbeitslosigkeit suchen. Tunesien, das bis in die 1950er Jahre unter französischer Herrschaft stand, ist ein typisches Beispiel dafür: Eine im August veröffentlichte Studie des Arabischen Barometers ergab, dass sieben von zehn Tunesierinnen und Tunesiern zwischen 18 und 29 Jahren auswandern wollen. Offizielle Zahlen zeigen, dass 41 Prozent der jungen Tunesierinnen und Tunesier arbeitslos sind – obwohl 23 Prozent von ihnen einen Hochschulabschluss haben.
Dieser Artikel wird zweimal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf den Nachrichten der am European Newsroom beteiligten Agenturen.