Mehr als zehn Monate nach einer Diskussion beim Weltwirtschaftsforum (WEF) bringt eine österreichische Website, die sich als «Blog für Science und Politik» bezeichnet, einen Artikel über die Veranstaltung: Die deutsche Professorin Maria Leptin habe dort in ihrer Rolle als Präsidentin des Europäischen Forschungsrates die Regierungen ermuntert, das Militär oder religiöse Organisationen zur Impfung der Bevölkerung einzusetzen. Die Regierungen sollten die hinter den Impfstoffen stehende Wissenschaft nicht erklären, sondern die Bürger stattdessen zur Impfung zwingen.

Bewertung

Die Darstellung ist falsch. Die Forscherin hat nicht gesagt, was der Artikel behauptet.

Fakten

Ein Facebook-Post verlinkt zur österreichischen Website tkp.at, die sich Ende November 2023 mit der Diskussion beim WEF beschäftigt. In dem Artikel heißt es unter der Überschrift «EU Beraterin empfiehlt religiöse Organisationen und Militär für Impfkampagne einzusetzen» unter anderem: «Eine einflussreiche Beraterin der EU hat die Regierungen dazu ermuntert, ihren Bürgern nicht länger „die Wissenschaft“ zu erklären, sondern stattdessen das Militär und religiöse Organisationen zur Impfung der Bevölkerung einzusetzen.»

Dies habe die Präsidentin des EU-ForschungsratesMaria Leptin, bei einer Veranstaltung des Weltwirtschaftsforums (WEF) gesagt. Der von der EU-Kommission eingerichtete Forschungsrat ist für die Vergabe von Geldern für zukunftsgerichtete grenzüberschreitende Forschungsprojekte in Europa zuständig.

Wissenschaftsleugnung als Problem in der Pandemie

Was bei der WEF-Veranstaltung unter dem Thema «Die Lage der Pandemie» am 18. Januar 2023 tatsächlich (in englischer Sprache) gesagt wurde, ist dank eines sowohl auf der WEF-Webseite als auch bei YouTube verbreiteten Videos auch fast ein Jahr danach noch einwandfrei nachvollziehbar.

Tatsächlich verwies die Moderatorin der Podiumsdiskussion darauf, dass die Covid-19-Pandemie «Schwierigkeiten und Gefahren der Wissenschaftsleugnung» gezeigt habe. Auf die Frage, ob sich die Lage mittlerweile gebessert habe, antwortete Leptin (14:10): «Ich wünschte, es hätte sich gebessert.»

Sie fügte dann hinzu: «Interessant ist vielleicht, dass zwei der Länder, denen es am besten gelungen ist, eine hohe Durchimpfungsrate zu erreichen, dies keineswegs damit begründeten, dass sie ihre Bürger dazu brachten, die Wissenschaft zu verstehen.»

Glaube und Aberglaube in Bhutan

Ein Beispiel dafür sei Bhutan, wo man die Bedürfnisse der Bürger berücksichtigt habe und das religiöse Establishment «bei der Suche nach der richtigen Zeit und dem richtigen Datum einbezog» (14:50). Damit habe man eine «fantastische (Impf-)Abdeckung» erreicht und «da wurde keine Wissenschaft erklärt».

Leptin bezog sich dabei auf die Tatsache, dass Bhutan ein sehr religiöses Land ist, in dem auch der Aberglaube eine wichtige Rolle spielt. Deshalb wurden Tag und Uhrzeit des Beginns der Impfkampagne ebenso wie Alter und Geschlecht der ersten Impflinge von Astrologen bestimmt. Ausführlich wird dieses Vorgehen unter anderem in einer Studie dargestellt, die von der National Library of Medicine der USA veröffentlicht wurde.

Ein pensionierter General in Portugal

Das andere Beispiel sei Portugal, wo ein pensionierter General die Kampagne zu «einem Krieg, den das Land in patriotischer Leidenschaft gemeinsam kämpfte» (15:15), erklärte. «Also keine Wissenschaft, daran sollten wir uns erinnern. In einem Land gute Planung und gute Integration, im anderen die richtige Art von Haltung», sagte Leptin.

Im weiteren Verlauf der Diskussion ging es um die Gründe für fehlendes Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft. Es gehe darum, das Vertrauen in die Wissenschaft herzustellen, sagte Leptin. «Das Problem ist, dass viele Bürger nicht verstehen, dass Ungewissheit zur wissenschaftlichen Arbeit dazugehört.» Es sei wichtig, Wissenschaft besser zu erklären. Dies könnten allerdings Personen, die bei den Bürgern über Vertrauen verfügten, vermutlich besser als die Wissenschaftler selbst.

Mehr Forschung gefordert und gefördert

In der Tat gehe es bei der Akzeptanz von Impfungen nicht nur um wissenschaftliche Argumente, sagte die Epidemiologin Michelle Williams von der Harvard Universität. Regierungen müssten einsehen, dass sie bisher zu wenig für die Erforschung des menschlichen Verhaltens ausgegeben hätten (ab 23:45). Es gehe darum, «ein Sicherheitsnetz zu schaffen, das von der Bereitstellung von Wissen, Impfstoffen und Therapeutika bis hin zu Erklärung, Motivation und Kultivierung einer Umgebung des Vertrauens reicht, die Gesundheit für Einzelne, Gemeinschaften und Familien weltweit fördert».

Leptin verwies ebenfalls darauf, dass einerseits die Grundlagenforschung wichtig sei – dass andererseits aber auch daran geforscht werden müsse, das Verhalten von Menschen in einer Pandemiesituation zu verstehen (33:30). «Also einen völlig anderen Aspekt der Forschung, die wir brauchen.» Diese Art von Forschung werde bereits vom Forschungsrat gefördert.

Zu keinem Zeitpunkt hat Leptin Regierungen aufgefordert, sie sollten aufhören, die «Öffentlichkeit zu überzeugen, sich impfen zu lassen, und stattdessen das Militär und das „religiöse Establishment“ einschalten». Für die Behauptung, die hinter den Impfungen stehende Wissenschaft solle nicht erklärt werden, sondern die Bürger sollten zur Impfung «gezwungen» werden, findet sich ebenfalls keinerlei Beleg.

Links

Facebook-Postarchiviert

Webseite tkp.atarchiviert

EU-Forschungsratarchiviert

Offizielle Bio Leptinarchiviert

Video WEF-Webseitearchiviert

Video YouTubearchiviert

Studie Bhutanarchiviert

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