Die EU wird ihr Kooperationsabkommen mit Israel überprüfen, nachdem eine „große Mehrheit“ der Mitgliedstaaten im Zuge der erneuten militärischen Offensive in Gaza und der Hilfsgüterblockade einen entsprechenden Vorschlag unterstützt hat.
„Die Situation in Gaza ist katastrophal,“ sagte die oberste Diplomatin der EU, Kaja Kallas, nach einem Treffen der EU-Außenminister am Dienstag in Brüssel. „Ich werde keine Zahlen nennen und keine Mitgliedstaaten benennen, aber ich kann sagen, dass es eine große Mehrheit dafür gibt.“ Kallas forderte auch eine sofortige und „maßstabgerechte“ Entsendung von Hilfsgütern nach Gaza.
Die Entscheidung zugunsten einer Überprüfung kam zustande, nachdem sich die Haltung mehrerer europäischer Länder gegenüber Israel in den vergangenen Wochen verhärtet hat. Dazu beigetragen haben das Ende des Waffenstillstands in Gaza im März, eine elf-wöchige Blockade humanitärer Hilfe durch Israel und eine Ausweitung der militärischen Operationen in Gaza.
Das Gesundheitsministerium Gazas erklärte, dass seit Israel am 18. März die Angriffe wieder aufgenommen hat, mindestens 3427 Menschen getötet worden seien, was die Gesamtzahl der Todesopfer im Krieg auf 53.573 bringe. In ihrer „Integrated Food Security Phase Classification“ warnten die Vereinten Nationen in der vergangenen Woche, dass Gaza aufgrund des anhaltenden Konflikts und der Hilfsblockade in akuter Gefahr einer Hungersnot sei.
Die Blockade wurde am Montag teilweise gelockert, um einen minimalen Hilfseingang zu ermöglichen. Diesen bezeichneten die Vereinten Nationen als „Tropfen auf den heißen Stein“ im Vergleich dazu, was benötigt werde.
Warum überprüft die EU jetzt ihr Abkommen mit Israel?
Der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp hatte Anfang Mai einen Brief an Kallas geschrieben, in dem er die EU aufforderte, zu prüfen, ob Israel weiterhin die Bedingungen des EU-Israel-Assoziierungsabkommens einhalte. Veldkamp zufolge verstößt Israel mit der Hilfsblockade gegen Artikel 2 des Assoziierungsabkommens, in dem steht, dass Menschenrechte und demokratische Prinzipien respektiert werden müssen. Der Minister machte auch deutlich, dass er einer Verlängerung des EU-Israel-Aktionsplans nicht zustimmen werde, solange die Untersuchung läuft. Der Aktionsplan konkretisiert die EU-Israel-Zusammenarbeit. Eine Verlängerung kann nur einstimmig erfolgen.
Das Assoziierungsabkommen und der Aktionsplan gewähren Israel wirtschaftliche Privilegien in der EU, unter anderem den Zugang zu bestimmten europäischen Subventionen. Die EU ist Israels größter Handelspartner.
Eine Überprüfung wird nun vorgenommen, ohne dass ein Zeitrahmen dafür bekannt wurde.
Kallas erklärte auch, dass Sanktionen gegen israelische Siedler im Westjordanland vorbereitet wurden, aber von einem Mitgliedstaat blockiert wurden, der einigen Quellen zufolge Ungarn war.
Israel kritisierte den Schritt der EU und warnte davor, dies könnte die Bemühungen um einen Waffenstillstand in Gaza verkomplizieren. Der Sprecher des Außenministeriums, Oren Marmorstein, sagte, dass die wachsende internationale Kritik an Israel die Hamas nur in den laufenden Verhandlungen ermutigen würde.
Internationale Reaktionen auf Israels Handlungen nehmen zu
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der britische Premierminister Keir Starmer und der kanadische Premierminister Mark Carney hatten bereits am Montag eine deutlich formulierte gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie ankündigten, „weitere konkrete Maßnahmen“ zu ergreifen, falls Israel „die erneute militärische Offensive nicht beendet und seine Beschränkungen der humanitärer Hilfe nicht aufhebt“.
„Wir werden nicht tatenlos zusehen, während die Regierung Netanyahu diese empörenden Aktionen verfolgt,“ erklärten die drei Staats- und Regierungschefs und forderten einen Waffenstillstand sowie die Rückkehr der verbliebenen Geiseln, die die Hamas während ihres Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 genommen hatte. „Wir sind entschlossen, einen palästinensischen Staat als Beitrag zu einer Zwei-Staaten-Lösung anzuerkennen und sind bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten, um dies zu erreichen”, fügten sie hinzu.
Israels Premierminister Benjamin Netanyahu kritisierte den Schritt in einem Beitrag auf der Plattform X: „Indem sie Israel auffordern, einen defensiven Krieg für unser Überleben zu beenden, bevor die Hamas-Terroristen an unserer Grenze zerstört sind, und indem sie einen palästinensischen Staat fordern, bieten die Führer in London, Ottawa und Paris einen riesigen Preis für den völkermörderischen Angriff auf Israel am 7. Oktober an und laden zu weiteren solchen Gräueltaten ein.“
Der britische Außenminister David Lammy kündigte dann am Dienstag an, dass die Verhandlungen mit Israel über ein Freihandelsabkommen ausgesetzt worden sind. Er erklärte auch, dass der israelische Botschafter von der britischen Regierung einberufen wurde als Reaktion auf die „grausame“ Hilfsblockade und die Verhängung von Sanktionen gegen Siedler im Westjordanland.
In einer separaten gemeinsamen Erklärung am Montag appellierten die Außenminister von mehr als 20 Ländern an Israel, humanitäre Hilfe für den Gazastreifen wieder vollständig zu ermöglichen. „Obwohl wir Anzeichen eines begrenzten Neustarts der Hilfe anerkennen, hat Israel humanitäre Hilfe seit mehr als zwei Monaten blockiert. Lebensmittel, Medikamente und wichtige Versorgungsgüter sind aufgebraucht. Die Bevölkerung droht zu verhungern. Die Menschen in Gaza müssen die Hilfe erhalten, die sie dringend benötigen“, heißt es in der Erklärung. Abgegeben wurde sie unter anderem von den Außenministern von Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Island, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, der Niederlande, Norwegen, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweden und dem Vereinigten Königreich.
Die Minister stellten zwei klare Forderungen an Israel: „Erlauben Sie sofort eine vollständige Wiederaufnahme der Hilfe nach Gaza und ermöglichen Sie den UN und humanitären Organisationen, unabhängig und unparteiisch zu arbeiten, um Leben zu retten, Leiden zu lindern und Würde zu wahren.“
Die EU bleibt gespalten in der Frage
Am vergangenen Freitag äußerten Island, Irland, Luxemburg, Malta, Norwegen, Slowenien und Spanien in einer gemeinsamen Erklärung ihre Besorgnis über Israels Pläne zur Ausweitung seiner Offensive in Gaza und zur Besetzung der palästinensischen Gebiete. Die Regierungschefs dieser Länder bekräftigten unter anderem ihr Bekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Lösung.
Weiteren Druck auf die Regierungen haben auch Proteste ausgeübt. In Den Haag etwa versammelten sich am Sonntag Zehntausende von Menschen, um gegen die Politik der niederländischen Regierung im Hinblick auf Israels Krieg gegen Gaza zu demonstrieren. Viele Demonstrierende waren auf Bitte der Organisatoren, Oxfam Novib, in Rot gekleidet, um symbolisch eine rote Linie für Gaza zu ziehen. Die Teilnehmenden der Kundgebung drängten die niederländische Regierung dazu, gegen Israel vorzugehen und argumentierten, dass es in Gaza einen „Völkermord“ begehe.
Die Organisatoren gaben an, dass mehr als 100.000 Menschen teilgenommen hätten und bezeichneten dies als die größte Demonstration im Land seit 20 Jahren. Die Polizei gab keine Schätzung der Teilnehmerzahl ab.
Italienische Parlamentarier protestierten am Sonntag vor dem ägyptischen Grenzübergang Rafah zu Gaza und forderten Zugang zu Hilfsgütern und ein Ende des Krieges in dem verwüsteten palästinensischen Gebiet. „Europa tut nicht genug, um das Massaker zu stoppen,“ sagte Cecilia Strada, ein italienisches Mitglied des Europäischen Parlaments, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Zu der Gruppe gehörten elf Mitglieder des italienischen Parlaments, drei Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Sie hielten Schilder mit den Aufschriften „Stoppt den Völkermord jetzt“, „Beendet die illegale Besetzung“ und „Stoppt die Waffenlieferungen an Israel“. „Es sollte ein vollständiges Embargo für Waffen nach und von Israel und einen Stopp des Handels mit illegalen Siedlungen geben,“ sagte Strada.
Die italienische Regierung forderte am Samstag Israel erneut auf, die Angriffe auf Gaza einzustellen. Außenminister Antonio Tajani sagte: „Genug mit den Angriffen“, und er fügte hinzu: „Wir wollen nicht länger sehen, dass das palästinensische Volk leidet.“
Italien ist allerdings gegen die angekündigte Überprüfung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens.
In der vergangenen Woche hatten bereits einige Universitäten in Belgien die EU aufgefordert, das Assoziierungsabkommen mit Israel auszusetzen. „Die Fortsetzung des Vertrags wird als Legitimierung einer Regierung angesehen, die weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen begeht und sogar verhindert, dass humanitäre Hilfe die palästinensische Bevölkerung erreicht. Dies ist mit den grundlegenden europäischen Werten in keiner Weise vereinbar,“ hieß es in der Erklärung.
Regierungsunterstützung für Israel bleibt in einigen EU-Ländern stark
Das Parlament Ungarns hat dagegen am Dienstag ein Gesetz verabschiedet, das den Rückzug des Landes aus dem Internationalen Strafgerichtshof vorsieht. Es wies den Haftbefehl des Gerichts gegen Netanyahu zurück, und Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte zu Beginn des Jahres während eines Besuchs von Netanyahu, dass der „Gerichtshof zu einem politischen Werkzeug degradiert wurde“.
Auch Tschechien ist ein starker Unterstützer Israels. Das Land spricht sich gegen eine Überprüfung des EU-Israel-Abkommens aus. „Ich denke, dass wir, wenn wir Bedenken haben, diese direkt an Israel kommunizieren sollten. Wir könnten beispielsweise den Assoziationsrat einberufen und das auf irgendeine Weise besprechen“, sagte der tschechische Außenminister Jan Lipavský am Dienstag.
Lipavský betonte, dass Tschechien humanitäre Hilfe nach Gaza befürworte, er fügte jedoch hinzu: „Wir müssen diese Hilfe so organisieren, dass sie nicht die Hamas, eine Terrororganisation, die ihre Angriffe auf Israel ununterbrochen fortsetzt, unterstützt.“
Deutschland pflegt ebenfalls eine gute Beziehung zu Israel. Während eines Besuchs in der vergangenen Woche, um 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu feiern, knüpfte der deutsche Präsident Frank-Walter Steinmeier diese Unterstützung an einen Appell für Hilfe in Gaza.
„Die Freunde Israels, und ich zähle Deutschland zu einem besonderen Freund, sind nicht naiv,“ sagte Steinmeier. „Sie erkennen das Dilemma, das die Hamas für die israelische Armee schafft, indem sie sich feige hinter Zivilisten versteckt und weiterhin Raketen auf Israel abfeuert.“
Steinmeier fügte hinzu: „Aber ich fürchte auch, dass das Leid, das die Menschen in Gaza erfahren, die Gräben weiter vertieft. Und das besorgt mich, wie viele andere Freunde Israels auch.“
Dieser Artikel wird zwei Mal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf den Nachrichten der am European Newsroom beteiligten Agenturen.