Im Juni 2022 schlug EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Renaturierungsgesetz als Teil des europäischen Green Deals vor. Der Vorschlag, mindestens 20 Prozent der degradierten Ökosysteme in Europa bis 2030 zu rehabilitieren, gilt als zentraler Pfeiler der EU-Biodiversitätsstrategie.
Das «Gesetz zur Wiederherstellung der Natur» zielt darauf ab, bewaldete Gebiete und maritime Lebensräume wiederzubeleben und Flussnetze besser miteinander zu verbinden. Jüngst gab es dafür im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments keine Mehrheit.
Es ist Teil einer langfristigen Strategie zur Wiederherstellung der Natur, da im gesamten EU-Gebiet mehr als 80 Prozent der Lebensräume in einem schlechten Zustand sind. Angesichts der globalen Erderwärmung soll das Gesetz die Ökosysteme auch widerstandsfähiger machen. Das Gesetz führte jedoch zu heftigen Debatten, auch innerhalb der politischen Gruppierungen.
Widerstand kam vor allem von von der Leyens eigener Parlamentsfraktion der Europäischen Volkspartei (EVP).
Der umstrittene Vorschlag überstand die Abstimmung im Europäischen Parlament mit 336 Ja-Stimmen, 300 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen.
„Europäischer Trumpismus“ oder ernsthafte Sorge um die Ernährungssicherheit?
Das Renaturierungsgesetz löste im Vorfeld der Abstimmung eine heftige Kontroverse aus und wurde zu einem wichtigen Wahlkampfthema im Hinblick auf die Europawahlen im Juni 2024. Abgeordnete der Mitte-Links-Fraktion beschuldigen die EVP, das Gesetz als politischen Spielball zu benutzen. Im Falle einer Ablehnung wäre das Erreichen der EU-Klimaneutralitätsziele möglicherweise in Gefahr gewesen.
„Was wir jetzt sehen … würde ich als ‚europäischen Trumpismus‘ bezeichnen“, sagte der französische Europaabgeordnete Pascal Canfin, Mitglied der liberalen Fraktion Renew und Vorsitzender des Umweltausschusses des Parlaments. Er bezog sich dabei auf den alleingängerischen Regierungsstil des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und seine Politik, den Umweltschutz zurückzuschrauben.
Vor der Abstimmung sagte der niederländische Europaabgeordnete Mohammed Chahim von der Mitte-Links-Fraktion der Sozialisten und Demokraten (S&D), dass „die Wahlen offensichtlich begonnen haben, und das alles auf Kosten der Natur“.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP), die größte Fraktion des Parlaments, umwirbt die europäischen Landwirte als wichtige Wählergruppe und hatte versucht den Gesetzentwurf abzulehnen. Argument war, dass er die Lebensmittelsicherheit in der EU, verringern, Landwirten und Fischern schaden und die Möglichkeiten zum Bau von Wind- und Wasserkraftanlagen einschränken würde.
Durch die Ablehnung des Entwurfs stärkte der deutsche EVP-Vorsitzende Manfred Weber das Bündnis mit den Rechtsparteien. Im Vorfeld der Abstimmung sagte der Europaabgeordnete Peter Liese – umweltpolitischer Sprecher der EVP -, dass der Gesetzesentwurf der EU-Kommission „ein schlechter Vorschlag“ und seine Ablehnung „die einzige Alternative“ sei. Der deutsche Abgeordnete betonte, dass die EVP „viele, viele andere“ Green-Deal-Gesetze unterstützt habe, aber „wir bereits an der Grenze sind, zu viel zu tun“.
Das Gesetz spaltete auch die kroatischen Abgeordneten des linken und rechten Flügels, die die Auswirkungen des Gesetzes auf die Fischer des Landes unterschiedlich interpretierten. Tomislav Sokol (EVP) merkte an, dass zu strenge Regeln zur Schleppnetzfischerei die nationale Fischereiindustrie schädigen und zu höherem Import von Fisch führen würde. Fred Matić (S&D) betonte hingegen, dass diese Verordnung verhindern würde, dass ausländischer Fisch in Kroatien angeboten werde.
EU-Abgeordnete der sozialdemokratischen, grünen und linken Fraktionen im Parlament unterstützten die Gesetzgebung, und viele schlossen sich am Dienstag einer Demonstration der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg an. „Unsere Botschaft an die Politiker ist, Natur und Mensch über Profit und Gier zu stellen“, sagte sie bei der Demonstration in Straßburg.
Auf der anderen Seite folgten Landwirte auf ihren Traktoren einem Aufruf des europäischen Bauernverbandes Copa-Cogeca und demonstrierten vor dem Parlamentsgebäude gegen das Naturschutzgesetz.
Spaltung der EVP-S&D-Achse, nie dagewesene Einigkeit der anderen Fraktionen
Die Verabschiedung des Textes zeigte eine Spaltung in von der Leyens Mehrheit auf.
„Die Behinderung durch die Rechten, der extremen Rechten und eines Teils der Liberalen hat dazu geführt, dass eine weitgehend verwässerte Version angenommen wurde“, sagte die belgische Europaabgeordnete Caroline Roose (Grüne). Die Nichtregierungsorganisation Seas At Risk, die sich für den Schutz der Meeresumwelt einsetzt, stimmte dem zu und kritisierte „populistische Effekthascherei“ von rechten und rechtsextremen Gesetzgebern, sowie die „deutlich abgeschwächte“ Endposition.
Trotz Kritik stach die bisher nicht dagewesene Einigkeit der S&D mit der Linken, den Grünen und einem Teil von Renew in Straßburg hervor. Es ist verfrüht, von einer alternativen Mehrheit zu derjenigen zu sprechen, die Weber vorschwebt. Aber mit dem Auseinanderbrechen der EVP-S&D-Achse, die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen unterstützt, hat sich ein Erdbeben ereignet. Von der Leyen hat sich bisher nicht zu der Abstimmung geäußert, aber es gilt als sehr wahrscheinlich, dass sie den Green Deal, die Priorität ihrer Legislaturperiode, moralisch unterstützen wird. Die Abstimmung ist „ein politisches Ergebnis für die Kommission“, so EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.
Die französische Europaabgeordnete Manon Aubry, die Ko-Vorsitzende der Linken, erklärte, dass mit der Abstimmung der Versuch gescheitert sei, das Rechts-Mitte-Rechts-Bündnis, das die Regierung von Italiens ultrarechter Ministerpräsidentin Meloni unterstützt, auf die EU-Ebene zu übertragen.
„Wir sind erleichtert“, sagte Aubry. „Es ist eine große Niederlage für die Koalition zwischen der Volkspartei und der Rechten, eine Koalition, die Sie in Italien mit der Regierung Meloni gut kennen. Sie haben es in Italien versucht, und jetzt wollten sie es im Europäischen Parlament versuchen, aber wir haben sie besiegt. Das ist der Beweis dafür, dass die linken Parteien gemeinsam die Umweltagenda retten und die Rechten besiegen können.“
Mitten im Wahlkampf für die vorgezogenen spanischen Parlamentswahlen am 23. Juli, standen sich bei der Abstimmung im Europäischen Parlament die beiden wichtigsten spanischen Parteien gegenüber: die Sozialistische Partei stimmte dafür, die Volkspartei dagegen.
Obwohl der Text mit knapper Mehrheit angenommen wurde, beschuldigte die Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, die Spanierin Iratxe García, die spanische Volkspartei, „sich den Leugnern des Klimawandels anzuschließen“, da sie sich auf die Seite der konservativen und rechtsextremen Gruppen gestellt habe.
Renaturierungsgesetz muss durch Trilog-Verhandlungen
Nach der Abstimmung am Mittwoch wird das Europäische Parlament Verhandlungen mit dem Rat der Europäischen Union über die endgültige Form der Gesetzgebung aufnehmen.
Der Rat, der als Mitgesetzgeber fungiert, hat letzte Woche seine Verhandlungsposition angenommen, nach der die Mitgliedstaaten mindestens 30 Prozent der Gesamtfläche der Lebensräume in Land-, Küsten-, Süßwasser- und Meeresökosystemen, die sich in einem schlechten Zustand befinden, wiederherstellen müssen. Das unterscheidet sich von dem, was die EU-Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte: nämlich, dass dies für 30 Prozent der Gesamtfläche für jede der sieben verschiedenen Arten von Ökosystemen gelten sollte.
Im Juni hat der EU-Umweltrat die allgemeine Ausrichtung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur angenommen. Die Umweltminister der Mitgliedstaaten haben sich auf einen gemeinsamen Standpunkt zu dem Vorschlag geeinigt.
Trotz vieler Vorbehalte im eigenen Land gelang es der schwedischen Ratspräsidentschaft einen Vorschlag durchzusetzen, der mit qualifizierter Mehrheit angenommen wurde. Der Entwurf sieht im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission eine lange Liste von Flexibilitäten vor.
Von den 27 Mitgliedstaaten stimmten 20 dafür, Finnland, Italien, die Niederlande, Polen und Schweden waren dagegen, während sich Österreich und Belgien der Stimme enthielten.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.