Die Kommissions-Vizepräsidentin und EU-Kommissarin für Werte und Transparenz Věra Jourová äußerte den Wunsch, die Europäische Union solle den Kampf für „mutige“ Journalisten anführen, die ihr Leben riskierten, um zu informieren, wie es derzeit in der Ukraine oder in Ländern mit autoritären Regimen geschehe, und „ein Zentrum der Medienfreiheit“ werden.
In einem Interview mit dem European Newsroom im Vorfeld des Internationalen Tags der Pressefreiheit am 3. Mai rief Jourová außerdem dazu auf, in dieser Frage „vor der eigenen Haustür zu kehren“, da die Medien eine Säule des demokratischen Systems seien.
Die EU-Kommissarin würdigte alle Journalisten und Medienschaffenden, die „ihr Leben riskieren, um uns zu informieren“, wie diejenigen, „die jetzt auf dem Schlachtfeld in der Ukraine sind, die an der Front unter russischem Bombardement stehen“, und die „wir dort dringend brauchen“, damit wir die Fakten kennen.
Die tschechische Politikerin sagte auch, sie denke an Journalisten, „die in autoritären Regimen arbeiten, und an die, die im Gefängnis sitzen“.
Sie verwies insbesondere auf den amerikanischen Reporter Evan Gershkovich, der im März von Russland verhaftet wurde, und forderte, dass „kontinuierlicher Druck“ auf Moskau ausgeübt werden müsse, ihn freizulassen, „weil dies ein ungeheuerlicher Angriff auf Journalisten und auch auf die Meinungsfreiheit ist“.
„Ich möchte, dass die Europäische Union den Kampf zum Schutz dieser mutigen Stimmen anführt, und ich möchte, dass die Europäische Union ein Zentrum der Medienfreiheit wird“,
sagte Jourová.
Doch um dieses Zentrum der Pressefreiheit zu sein, müsse die EU zunächst „vor der eigenen Haustür kehren“, mahnte Jourová. Sie betonte die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit der Presse zu stärken, den öffentlichen Mediendienst zu schützen und Informationen über die Eigentumsverhältnisse von Medienunternehmen öffentlich zu machen. Außerdem sollte Transparenz darüber herrschen, wie viel Geld die Behörden für institutionelle Werbung ausgeben und welche Medien sie dafür nutzen.
Europäisches Medienfreiheitsgesetz
Im vergangenen September hatte die Europäische Kommission den European Media Freedom Act (EMFA) vorgeschlagen, ein Gesetz zum besseren Schutz unabhängiger Medien vor staatlicher Einflussnahme. Nach den Skandalen um die Bespitzelung von Journalisten, den Zweifeln an der Unabhängigkeit der öffentlichen Medien sowie der Undurchsichtigkeit von Regierungskampagnen in der Presse soll damit der Informationsgrundsatz als öffentliches Gut gesetzlich verankert werden.
Dieses zukünftige Gesetz „wird von vielen kritisiert“, aber „wir tun das Richtige, indem wir die Mitgliedsstaaten warnen, starke und unabhängige öffentlich-rechtliche Medien ohne staatliche oder parteipolitische Tendenzen zu erhalten, denn genau das sehen wir in Polen und Ungarn“.
Mit Blick auf die Kritik deutscher Verleger an dem geplanten Gesetz meinte Jourová, sie habe den Verlegern oft erklärt, worum es in dem Vorschlag gehe – und worum nicht. Für die Verleger sei es schwer zu schlucken, sagte sie, dass sie zum ersten Mal auf EU-Ebene reguliert werden sollen.
Es gehe nicht darum, Standards herabzusetzen, äußerte die tschechische Politikerin. „Meine Botschaft ist: Kein System ist absolut immun.“ In einer Situation, in der die Politik in einem Land verrückt werde und Politiker die Medienlandschaft kapern wollten, werde man froh über ein Sicherheitsnetz in der EU sein. „Das kann überall passieren“. Der geplante Ausschuss für Mediendienste auf EU-Ebene werde keinerlei Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung nehmen.
Das Europaparlament und die EU-Staaten verhandeln derzeit jeweils über ihre Position zu dem Gesetzesvorschlag. Die Mitgliedsstaaten könnten im EU-Rat noch bis Jahresmitte eine Einigung erzielen, das Parlament voraussichtlich im Oktober. Anschließend müssten beide Seiten miteinander über eine gemeinsame Position verhandeln.
Dieser Vorschlag, erklärte Jourová, bedeute auch, „unabhängige Medien willkommen zu heißen, die vor der Zensur in ihrem Heimatland fliehen müssen“, weshalb Brüssel versuche, „wirksame Hilfe für russische Journalisten zu entwickeln, die in der EU im Exil leben“, damit diese „ihre Arbeit fortsetzen können“.
Brüssel ist der Ansicht, dass sich die Situation in mehreren Mitgliedsstaaten stark verschlechtert habe und argumentiert, dass „die redaktionelle Freiheit sowie die Unabhängigkeit und Stärke der Medien als wichtige Akteure im demokratischen System geschützt werden müssen“, erinnerte Jourová.
Sie bezeichnete es als „beschämend“, dass es in der EU „Journalisten gibt, die bedroht und verletzt werden“, weshalb Brüssel vor mehr als einem Jahr eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten gerichtet habe, um sie zu schützen, und „am Ende dieses Jahres“ um Ergebnisse bitten werde.
Auf eine Frage zu der Polizeirazzia bei der italienischen Zeitung Domani am 4. März, bei der ein Artikel über Claudio Durigon – Unterstaatssekretär im italienischen Ministerium für Arbeit und Soziales und Mitglied der Partei Lega – beschlagnahmt wurde, wies Jourová darauf hin, dass die Europäische Kommission versucht habe, „dieses Problem in dem im September letzten Jahres vorgeschlagenen Gesetz über die Medienfreiheit zu behandeln. Wir schlagen vor, politische Einmischung in den Medienbetrieb und redaktionelle Inhalte zu verbieten“. Jourová fügte hinzu, dass die Kommission „nicht eingreifen kann, weil es sich um einen Einzelfall im Bereich der Strafverfolgung handelt“.
Sie betonte, dass Handlungsbedarf bestehe, vor allem jenen osteuropäischen Ländern, die jetzt EU-Mitglieder seien, früher aber zum sowjetischen Orbit gehört hätten, wo „starke Medien benötigt werden, um der intensiven russischen Propaganda etwas entgegensetzen zu können“, die dort „auf recht fruchtbaren Boden fällt“.
Verleumdung und SLAPPs
Die tschechische Juristin, die in der letzten Legislaturperiode Justizkommissarin war, betonte auch, dass sie keinen „Missbrauch des Justizsystems gegen Journalisten und die Meinungsfreiheit“ in Europa wolle.
Brüssel habe Ende 2021 die Anti-SLAPP-Richtlinie vorgeschlagen, eine Verordnung zur Stärkung des Schutzes von Journalisten vor missbräuchlichen Rechtsstreitigkeiten, die sich im Gesetzgebungsverfahren befinde und „nicht einfach“ voranzutreiben sei, räumte Jourová ein, äußerte jedoch die Hoffnung, dass sie noch vor Ende dieser Legislaturperiode Mitte 2024 verabschiedet werden könnte.
Strategische Klagen gegen die Beteiligung der Öffentlichkeit – meist SLAPPs genannt – sind Klagen gegen Journalisten, Medien und Aktivisten. Sie gelten als eine besondere Form der Belästigung, da sich die Klagen in der Regel über Jahre hinziehen und einen großen zeitlichen und finanziellen Aufwand seitens der Beklagten erfordern.
„Ich bin überzeugt, dass es Journalisten möglich sein muss, ihre Arbeit ohne Angst zu machen“, betonte Jourová, die auch auf die Bedeutung des Kampfes gegen Desinformation hinwies.
„All dies ist entscheidend in Zeiten von Wahlen, in Kriegszeiten, aber auch in normalen Zeiten, in denen die Demokratie starke Medien braucht. Und deshalb tun wir all diese noch nie dagewesenen Dinge“, sagte sie.
„Es gibt Ausnahmen im Hinblick auf den Verdacht eines möglichen Verbrechens oder einer Gefährdung der nationalen Sicherheit: Dies“, räumte sie ein, „wird immer die Rechtfertigung sein, die wir von den Mitgliedsstaaten hören, wenn diese Dinge passieren, dass eine Frage der nationalen Sicherheit berührt ist oder ein Verbrechen im Raum steht.“ Nach Angaben der Kommission ist angebliche Verleumdung einer der häufigsten Gründe, warum SLAPPs gegen Journalisten eingereicht werden.
Laut dem am 7. März veröffentlichten Jahresbericht der Platform for the Safety of Journalists des Europarats, einem Zusammenschluss von 15 NGOs für Pressefreiheit sowie Journalistenverbänden, werden Journalisten und Medienunternehmen in Albanien, Bulgarien, Kroatien, Frankreich, Italien, Polen und Serbien zunehmend wegen Verleumdung verklagt. Die Plattform hat mehrere Fälle registriert, in denen Journalisten wegen ihrer Berichterstattung zu Geldstrafen verurteilt wurden, darunter z. B. Mediapool.bg in Bulgarien. Die Bußgelder lagen zwischen 1.000 und 8.000 Euro. Am Tag nach der Veröffentlichung des Berichts reichte der Versicherer Lev Insurer eine beispiellose Klage über eine halbe Million Euro gegen Mediapool.bg ein.
Desinformation auf Twitter
Bezüglich der Desinformation auf Twitter sagte Jourová, dass vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) „immer noch Raum für einen Dialog besteht, und ich würde Herrn Musk wirklich gerne unsere Philosophie erklären, dass wir das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Meinungsfreiheit schützen. Deshalb haben wir ein so kompliziertes System geschaffen, nämlich den Verhaltenskodex [für die Bekämpfung von Desinformation]“, aber „der freien Meinungsäußerung in der EU sind Grenzen gesetzt“.
Im Februar veröffentlichte die Kommission einen Bericht, in dem sie aufzeigte, dass Twitter bei der Bekämpfung von Desinformation hinterherhinkt, obwohl das Unternehmen den Verhaltenskodex für die Bekämpfung von Desinformation freiwillig unterzeichnet hat. Jourová fügte hinzu, dass nach Inkrafttreten des DSA „dieser Kodex als das Werkzeug betrachtet werden wird, das die Plattform brauchen könnte, um die Strafverfolgungsbehörden davon zu überzeugen, dass sie alles tut, um das Risiko von Desinformation zu mindern“.
Jourová wiederholte ihre Enttäuschung über die Bemühungen des sozialen Netzwerks, der Verbreitung von Fake News entgegenzuwirken, und sagte, sie fühle sich persönlich „immer unbehaglicher auf Twitter, inmitten der unregulierten aggressiven russischen Propaganda“.
„Ich kann nicht vorhersagen, was mit Twitter passieren wird“, sobald das Gesetz über digitale Dienste in Kraft getreten ist, fuhr Jourová fort, aber „ich würde die Situation mit einer Fahrt auf der Autobahn vergleichen: Wenn Sie die Geschwindigkeit überschreiten, bekommen Sie Strafen, und eines Tages könnte Ihnen der Führerschein entzogen werden. Dies ist ein allgemeiner Ausblick darauf, wie das Gesetz über digitale Dienste in Zukunft bei Verstößen angewendet werden wird“.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.