Mitte September hat Deutschland die Grenzkontrollen an den Grenzen zu allen neun Nachbarländern ausgeweitet, mit der Hoffnung den Zustrom irregulärer Migranten einzudämmen und der Bedrohung durch islamistische Terrorgruppen und grenzüberschreitende kriminelle Organisationen zu begegnen. Dieser Schritt hat Proteste von anderen EU-Mitgliedern ausgelöst.
Deutschland liegt im Herzen Europas und des visafreien Schengenraums, der den freien Personen- und Warenverkehr ermöglichen soll – seit langem eine Kernidee des europäischen Projekts.
Nach den tödlichen Messerangriffen in den deutschen Städten Mannheim und Solingen, die für Empörung und Entsetzen sorgten, haben sich die seit langem geführten Debatten über den Umgang mit asylsuchenden Migranten in Deutschland in den letzten Wochen verschärft.
Der mutmaßliche Angreifer von Solingen, ein syrischer Staatsbürger, hatte sich einer Abschiebung von Deutschland nach Bulgarien entzogen, wo er zuerst in die EU eingereist war.
Polen, Österreich und Griechenland gehören zu den Ländern, die sich über die Einführung von Grenzkontrollen beschwert haben, die zunächst für sechs Monate gelten sollen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk verurteilte den Schritt als „inakzeptabel“ und sein griechischer Amtskollege Kyriakos Mitsotakis sagte in einem Interview mit Talk Radio, dass eine „einseitige Abschaffung von Schengen“ keine Lösung sei.
Der tschechische Innenminister Vit Rakušan sagte, er erwarte keine Änderungen an der tschechisch-deutschen Grenze.
Grenzkontrollen mit Polen, der Tschechischen Republik, Österreich und der Schweiz gab es bereits vorher und wurden auf die Grenzen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien und Dänemark ausgeweitet.
Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen in Deutschland im nächsten Jahr haben die Angriffe im Lande die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz unter starken politischen Druck gesetzt, ihre Haltung gegenüber Migranten und Asylbewerbern zu verschärfen.
Dies gilt jedoch nicht nur für Deutschland: Der Erfolg rechtsextremer Parteien bei den Wahlen in wichtigen europäischen Ländern veranlasst selbst zentristische und linke Regierungen, ihre Migrationspolitik zu verschärfen, was zu Rissen in der europäischen Einheit führt und bei Aktivisten Besorgnis auslöst.
Experten: Grenzkontrollen werden die illegale Migration nicht eindämmen
Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, sagte der Stuttgarter Zeitung, es gebe „Alternativen zu restriktiven Maßnahmen“ wie der Zurückweisung von Migranten an der Grenze. „Eine Fixierung auf Grenzkontrollen wird die wirklich Verzweifelten nicht abschrecken“, sagte Grandi.
„Die Wiedereinführung vorübergehender Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums ist fast die automatische Folge des fehlenden gemeinsamen Verständnisses darüber, wer einreisen darf und zu welchem Zweck“, sagte Jean-Louis De Brouwer, Direktor für europäische Angelegenheiten am Egmont Royal Institute for International Relations in Brüssel, der rumänischen Nachrichtenagentur AGERPRES.
Seiner Meinung nach würde die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Schengenraum auf die eine oder andere Weise „dem Binnenmarkt schaden“. Er glaubt, dass die Mitgliedstaaten sehr bald – es könnte beim nächsten Gipfel des Europäischen Rats sein – eine sehr schwierige Frage beantworten müssen: ob sie Schengen behalten wollen oder nicht.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus erwartet nicht, dass die Ausweitung der Grenzkontrollen auf alle deutschen Landesgrenzen zu einem spürbaren Rückgang der Asylbewerberzahlen führen wird. „Wer erwartet, dass Grenzkontrollen zu einem Rückgang der irregulären Migration führen, der weckt eine Erwartung, die nicht erfüllbar ist“, sagte er im Deutschlandfunk.
Grenzkontrollen seien auch kein Mittel, um beispielsweise islamistischen Terrorismus zu verhindern, da sich viele der Täter in Deutschland radikalisierten, so der Forscher weiter.
Was ist Schengen und wer gehört dazu?
Der grenzfreie Schengenraum ermöglicht mehr als 425 Millionen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern, die legal in der Europäischen Union leben, arbeiten, reisen oder studieren, Freizügigkeit.
Der Schengen-Raum, benannt nach einem kleinen Dorf in Luxemburg, wurde 1985 als zwischenstaatliches Projekt von fünf Ländern ins Leben gerufen: Luxemburg, Deutschland, Frankreich, Belgien und die Niederlande.
In Wellen wuchs der Schengen-Raum und umfasst heute die meisten EU-Länder – mit Ausnahme von Zypern und Irland – sowie die Nicht-EU-Staaten Island, Norwegen, Schweiz und Lichtenstein. Heute ist es die größte Freizügigkeitszone der Welt.
Nach Angaben des Rates der Europäischen Union überqueren täglich 3,5 Millionen Menschen die Binnengrenzen.
Auch wenn die Entscheidung Deutschlands eine Kontroverse ausgelöst hat, ist es nicht das einzige Schengen-Mitglied, das Grenzkontrollen durchführt. Österreich, Dänemark, Frankreich, Italien, Norwegen, Slowenien und Schweden haben ebenfalls vorübergehende Maßnahmen ergriffen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschied 2022, dass ein Mitgliedstaat die vorübergehenden Grenzkontrollen nur dann verlängern kann, wenn er mit einer neuen Bedrohung konfrontiert ist, die seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit beeinträchtigt und sich von der ursprünglich festgestellten Bedrohung unterscheidet.
Bulgarien und Rumänien: Den Fuß in der Tür?
Seit dem 31. März 2024 sind Bulgarien und Rumänien dem Schengenraum beigetreten – teilweise. Die Kontrollen für den innerstaatlichen See- und Flugverkehr wurden aufgehoben, die Kontrollen an den Landgrenzen bleiben jedoch bestehen. EU-Beamte erwarten bis Ende des Jahres eine Entscheidung über die vollständige Schengen-Mitgliedschaft.
Im Dezember letzten Jahres war Österreich das einzige EU-Land, das eine vollständige Abschaffung der Grenzkontrollen an den bulgarischen und rumänischen Schengen-Grenzen nicht unterstützte.
Länder wie Spanien und die Slowakei sind dafür, dass Bulgarien und Rumänien Vollmitglieder des Schengen-Raums werden.
„Ich freue mich sehr, dass 2024 die internen Luft- und Seekontrollen zwischen Bulgarien und Rumänien und den anderen Schengen-Ländern nach zwölf Jahren Verhandlungen der Vergangenheit angehören werden“, sagte der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska letztes Jahr während der spanischen EU-Ratspräsidentschaft.
Bei seinem Besuch in Österreich erklärte der slowakische Staatspräsident Peter Pellegrini, dass der Schengen-Beitritt der beiden Länder „wichtig“ für Investitionen und für den wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen sei.
Die Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Bulgarien, Yordanka Chobanova, sagte am Dienstag in Sofia, dass eine Entscheidung über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Schengen-Raum auf dem Landweg bis Ende dieses Jahres erwartet werde.
Im Juli zeigte ein Bericht des Instituts für Wirtschaftsforschung der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, dass sich die direkten Verluste für Bulgarien durch die Verzögerung des vollständigen Beitritts zum Schengen-Raum auf über 400 Millionen Euro belaufen.
Schengen und Migration: Österreichs Veto und sein neues Migrationsportfolio
Österreich werde das Migrationsproblem nicht mehr als Vorwand nutzen können, um Bulgarien und Rumänien den Schengen-Beitritt zu verwehren, sagte der rumänische Europaabgeordnete Siegfried Mureşan, ein Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP), letzte Woche in einem Interview mit der bulgarischen Nachrichtenagentur BTA in Straßburg.
„Österreich wurde mit dem Ressort des Kommissars für Migration und Inneres betraut und hat damit das nötige Instrument, um Migrationsprobleme zu lösen. Die Lösung dieses Problems wird von ihrem eigenen Kommissar abhängen“, sagte Mureşan.
Österreichs designierter EU-Kommissar ist Finanzminister Magnus Brunner, ein Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Die ÖVP gehört der EVP an, einer Mitte-Rechts-Fraktion im Europäischen Parlament.
Die Entscheidung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Brunner das Migrationsportfolio zu übertragen, hat in Brüssel einige Kontroversen ausgelöst, da er wenig Erfahrung mit diesem Thema hat.
Mit Blick auf Österreichs Widerstand gegen den rumänischen und bulgarischen Schengen-Beitritt und die Tatsache, dass das Ressort Migration und Inneres einem Österreicher übertragen wurde, sagte ein Sprecher der Kommission, dass Kommissare nicht ihren Herkunftsstaat vertreten, sondern im Interesse aller europäischen Bürgerinnen und Bürger einen Beitrag zum EU-Projekt leisten.
Der Präsident der Europäischen Bewegung Österreich (EBÖ), Christoph Leitl, sagte: „Das ist eine Chance für Österreich, nämlich Kritik in Beteiligung zu verwandeln!“
Die neuen EU-Kommissare müssen noch ihr „Grilling“ durch das Europäische Parlament bestehen, bevor die neue Kommission endgültig bestätigt werden kann. In der Vergangenheit haben nicht alle Kandidaten bestanden, was bedeutet, dass ihre Länder eine neue Person nominieren müssen.
Dieser Artikel wird zwei Mal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.