„Nächste Woche, am 3. Oktober, jährt sich zum zehnten Mal die Tragödie von Lampedusa, nach der das Mittelmeer als größter Friedhof der Welt bezeichnet wurde. Und wieder sind wir in genau so einer Situation,“ sagte die Präsidentin des Europäischen Parlaments (EP), Roberta Metsola in einem Interview mit dem European Newsroom (enr). Auf die italienische Insel kamen kürzlich Tausende von Migranten in wenigen Tagen an.
Metsola hofft auf einen raschen Durchbruch bei den Gesprächen zwischen den Mitgliedstaaten über die Reform der EU-Migrationspolitik und ist der Meinung, dass „alle Anstrengungen unternommen werden müssen“, um eine Einigung zu erzielen.
Eine der Verordungen im von der Europäischen Kommission im September 2020 vorgelegten Migrations- und Asylpakts wurde in den letzten Tagen durch Unstimmigkeiten zwischen den EU-Ländern blockiert. In dem Dokument ging es um ein System der obligatorischen Solidarität zwischen den Ländern der Union im Falle eines massiven Zustroms von Migranten an den Grenzen eines Mitgliedstaates.
Ungarn, Polen, Österreich und die Tschechische Republik hatten sich im Juli dagegen ausgesprochen, während Deutschland, die Slowakei und die Niederlande sich der Stimme enthielten, so dass die für eine Verabschiedung erforderliche Mehrheit nicht zustande kam. Mittlerweile will Deutschland, trotz anhaltender Bedenken in der Regierungskoalition, der umstrittenen Krisenregelung für die geplante EU-Asylreform nun zustimmen.
Um Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben, eine Einigung zu erzielen, beschloss das Europäische Parlament letzte Woche, die Verhandlungen über zwei weitere Verordnungen des Migrationspakets zur Stärkung der Sicherheit an den Außengrenzen auszusetzen.
„Ich bin optimistisch, weil ich den Wählern nicht erklären kann, warum es uns nach fünf Jahren Legislaturperiode nicht gelungen ist, eine Lösung für einen der besten Legislativvorschläge zu finden, den wir je auf dem Tisch hatten,“
erklärte Metsola gegenüber dem enr.
Sie fügte hinzu, dass man „nicht nur auf den Sicherheitsaspekt (der Reform) drängen kann, ohne den Asylaspekt“ im Blick zu haben, also die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten.
Metsola wies darauf hin, dass das Thema Migration in 26 der 28 EU-Mitgliedsstaaten bei den Wahlen 2019 an erster Stelle gestanden habe. „Von den Bürgern bis zu den Flüchtlingen und von den Arbeitssuchenden bis zu den Premierministern im Europäischen Rat – die Emotionen kochen auf allen Ebenen hoch, wenn man das Wort Migration auf den Tisch bringt“, sagte sie.
Belgien wird in der ersten Hälfte des Jahres 2024 die Präsidentschaft des Europäischen Rates übernehmen und ab Januar die Verhandlungen mit dem Parlament führen.
„Italien darf nicht allein gelassen werden“
In Bezug auf Italien und den dortigen Migrationsdruck sagte Metsola, dass ein Land, das mit einem massiven Zustrom von Migranten konfrontiert ist, wie er gerade stattfindet, nicht „allein gelassen werden kann und sich nicht allein gelassen fühlen darf“. Sie bezog sich dabei auf Lampedusa, „eine Insel mit 6.000 Einwohnern“, die „an einem Tag plötzlich 1.700 Menschen aufnimmt, an einem anderen 3.000“.
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments erklärte, sie sei offen für die Anfrage Italiens nach der Möglichkeit eines Marineeinsatzes im Mittelmeer. „Das ist etwas, das wir positiv sehen könnten“, sagte sie und betonte, dass die Mission dazu führen würde, dass „weniger Menschen ihr Leben verlieren“ und dass „die Grenzen respektiert werden“.
Darüber hinaus schien sie auch in einem anderen Punkt mit Rom übereinzustimmen, nämlich bei der von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni angestrebten Verständigung zwischen der EU und Tunesien – einer derzeit in schwierigem Fahrwasser befindlichen Debatte. „Solange wir keine Lösung gefunden haben, die die Bearbeitung von Asylanträgen außerhalb des EU-Gebietes ermöglicht“, sagte sie, „werden wir mit den Ländern einen Dialog führen müssen, aus denen die Migranten keine andere Möglichkeit haben, als ein Schiff zu besteigen.“
Metsola erklärte, dass die Europäische Union eine Lösung finden müsse, nach der Asylanträge außerhalb des Gebiets der Europäischen Union bearbeitet werden können. Bis dahin solle ein Dialog mit den Ländern geführt werden, aus denen die Migranten mit Booten abreisen.
Schengen: Kontrollen an den Binnengrenzen „besorgniserregend“
Die Grenzkontrollen Deutschlands und Polens an den Schengen-Binnengrenzen in der vergangenen Woche halte sie für politisch besorgniserregend.
Metsola fügte hinzu, dass keine Notwendigkeit bestünde, die Binnengrenzen wiederherzustellen, wenn die erforderlichen Personenkontrollen an den Außengrenzen durchgeführt würden.
„Einer der wichtigsten Vorteile der EU, den auch Menschen außerhalb der EU sehen, wenn sie an die EU denken, ist die Freizügigkeit. Freizügigkeit bedeutet, dass man reisen und arbeiten kann,“ sagte sie und wies darauf hin, dass die Binnengrenzen in der EU geschlossen werden, weil der Schutz der Außengrenzen nicht gut funktioniert.
Sie sagte auch, dass Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum aufgenommen werden sollten und eine positive Entscheidung bis zum Ende der spanischen EU-Ratspräsidentschaft zu erwarten sei. „Sie haben das nicht nur erwartet, sondern seit 2011 verdient,“ sagte sie.
EU-Erweiterung: Metsola hofft auf Verhandlungsgespräche mit der Ukraine bis Ende des Jahres
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments hofft, dass die EU bis Ende des Jahres Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufnimmt, und ruft dazu auf, die Hoffnungen dieser Kandidatenländer nicht zu „enttäuschen“.
„Wenn die Ukraine und die Republik Moldau bereit sind, sollten die Beitrittsverhandlungen beginnen können, und dann kann Schritt für Schritt vorgegangen werden. Jedes Land geht seinen eigenen Weg, aber wir sollten die Millionen von Menschen, die Europa ihr Zuhause nennen, nicht enttäuschen,“ forderte sie.
Im Juni 2022 gewährte die EU der Ukraine und der Republik Moldau in einer symbolträchtigen Geste Kandidatenstatus. Die Europäische Kommission wird Ende Oktober einen Bericht über die Fortschritte aller Länder, die der EU beitreten wollen, vorlegen. Es wird erwartet, dass sie dem Europäischen Rat insbesondere die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für die Ukraine und Moldawien empfehlen wird.
Fünf Länder des westlichen Balkans (Albanien, Bosnien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien) haben ebenfalls Kandidatenstatus. Einige von ihnen verhandeln bereits seit mehr als zehn Jahren über eine Mitgliedschaft.
Metsola äußerte sich zudem zu den jüngsten Anschlägen im Kosovo und rief alle Seiten auf „echte Anstrengungen zur Wiederherstellung von Ruhe und Stabilität“ zu unternehmen.
Europawahlen 2024
Metsola erwartet einen harten Wahlkampf für die Europawahlen im Juni 2024, aber auch, dass die nächste EU eine pro-europäische, konstruktive Mehrheit haben wird.
Die Präsidentin des Europäischen Parlaments erklärte, der Kampf gegen den Extremismus werde eine große Herausforderung im Wahlkampf für die Wahlen vom 6. bis 9. Juni sein. Sie erwarte, dass die Fraktionen im nächsten EP noch stärker zersplittert sein werden als jetzt und dass sie mehr Zeit brauchen werden, um ihre Prioritäten festzulegen. Die Fraktionen sollten dies vor dem 17. Juli 2024 tun, wenn das neue EP seine konstituierende Sitzung abhalten wird.
Ihrer Meinung nach sei es notwendig, das Narrativ der extremistischen Gruppen zu bekämpfen und zu verstehen, dass es frustrierte, marginalisierte Bürger gibt, die seit Jahren nicht mehr für die etablierten Parteien gestimmt haben.
„Die Antwort der etablierten Parteien besteht darin, nicht nur auf ihre ihnen sicheren Stimmen zu schauen, sondern auf die Stimmen, die sie verloren haben, und sich zu fragen, warum sie nicht genug mit den Menschen gesprochen haben, die an den Rand gedrängt sind, die keine Arbeit haben, die in ländlichen Gebieten leben, die sich verlassen fühlen, oder die in städtischen Gebieten leben, die sich ungeschützt fühlen,“ sagte Metsola.
Auf die Frage nach dem Spitzenkandidatensystem, in dem jede Fraktion einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission aufstellt und das Amt automatisch an die Partei geht, die die meisten Stimmen erhält, sagte sie, dass das 2014 funktioniert habe. Damals wurde Jean-Claude Juncker als Kandidat der Europäischen Volkspartei zum Kommissionspräsidenten gewählt. Aber das System wurde 2019 aufgegeben, als der Europäische Rat Ursula von der Leyen nominierte, die nicht einmal kandidiert hatte.
Der Europäische Rat, der einen Kandidaten vorschlägt, und das Europäische Parlament, das über den Kandidaten abstimmt, müssen sich vor den Wahlen im nächsten Jahr über diese Frage einigen, betonte Metsola.
Wenn von der Leyen für eine Wiederwahl kandidieren wolle, so fügte sie hinzu, müsse sie als Kommissionspräsidentin an der Kampagne teilnehmen, und nicht als Kandidatin für das Europäische Parlament in ihrem Wahlkreis.
Metsola sagte, von der Leyen habe sehr gute Arbeit geleistet, auch wenn ihre Amtszeit nicht einfach gewesen sei, und man müsse die Tatsache begrüßen, dass sie die erste Frau an der Spitze der Kommission sei.
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