Die Opposition, angeführt vom ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten und Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk, hatte die Parlamentswahlen am Sonntag als „letzte Chance“ bezeichnet, die Demokratie im Land zu retten. Nun haben die drei Oppositionsparteien (Bürgerkoalition, Dritter Weg und die Linke) genügend Sitze gewonnen, um die Herrschaft der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu beenden, unter der sich die Beziehungen Polens zur EU dramatisch verschlechtert haben. „Dies ist das Ende der düsteren Zeiten“, erklärte Tusk spät am Sonntag.
„Ein Triumph der Demokratie und des Liberalismus“
Wie die polnische Nationale Wahlkommission am Dienstag mitteilte, blieb die rechtsgerichtete PiS mit 35,38 Prozent (194 Sitze) der Stimmen stärkste Einzelpartei, jedoch ohne Mehrheit. Das gemäßigte und pro-europäische Wahlbündnis Bürgerkoalition (KO) unter Tusk folgte mit 30,7 Prozent (157 Sitze). Die Zentristen vom Dritten Weg erhielten 14,40 Prozent (65 Sitze) und das linke Mehrparteienbündnis Linke 8,61 Prozent (26 Sitze). Die rechtsextreme Konföderation erhielt 7,16 Prozent (18 Sitze) der Stimmen.
Obwohl die PiS mehr Stimmen als jeder ihrer Konkurrenten erhalten hat, verfügt sie nicht über einen großen Spielraum für die Bildung von Allianzen. Ihre streitlustige Haltung während der gesamten Legislaturperiode mit Konfrontationen und Disqualifikationen gegenüber praktisch dem gesamten politischen Spektrum hat sie ideologisch isoliert. In ihrem Wahlkampf hatte die Partei ihre nationalistische Rhetorik verstärkt und sich sogar mit dem kriegsgebeutelten Nachbarland Ukraine angelegt. Der einzige realistische Koalitionspartner der PiS ist die ultrarechte Partei Konföderation, aber selbst mit deren Sitzen würde es nicht für eine Regierungsmehrheit reichen. Darüber hinaus haben beide Fraktionen erklärt, dass sie eine solche Union nicht wollen.
Tusks Koalition hat indessen den leichteren Weg, eine Regierung mit einer Mehrheit im Parlament zu bilden, indem sie eine Koalition mit der Partei des Dritten Weges und der Linken eingeht. Diese Koalition der Koalitionen – die insgesamt mehr als ein Dutzend Parteien umfassen würde – würde über 248 Sitze im 460 Mitglieder zählenden Sejm, dem Unterhaus des Parlaments, verfügen.
Die liberale Opposition an der Macht würde einen gewaltigen politischen Wandel in Polen bewirken und der nationalistischen, streng katholischen Vision der PiS-Partei für das Land entgegenwirken. Für die Wähler der Opposition würde das Ende der PiS-Herrschaft auch Polens Ruf auf der internationalen Bühne wiederherstellen. Tusk hat versprochen, die Beziehungen zu Brüssel wiederherzustellen und EU-Gelder freizugeben, die aufgrund eines anhaltenden Streits mit Warschau über die Rechtsstaatlichkeit in Polen eingefroren wurden.
Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR), einer paneuropäischen Denkfabrik, bezeichnete diese Wahlen als „Triumph der Demokratie und des Liberalismus“. Die Wahl wurde von Themen wie dem Einmarsch Russlands in der benachbarten Ukraine, Migrantion und Frauenrechten dominiert.
Der Sieg der pro-europäischen Opposition ist umso bedeutender, weil er unter äußerst ungleichen Bedingungen errungen wurde – trotz parteiischer öffentlicher Medien und der Tatsache, dass die Regierungspartei die finanzielle und institutionelle Macht des Staates zu ihrem Vorteil nutzte.
Die Wahlbeobachter stellten fest, dass die PiS ihre Macht in den öffentlichen Medien bei den Wahlen ausnutzte. „Die Beobachtermission stellte fest, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen zwar allen Kandidaten freie Sendezeit einräumte, die politische Berichterstattung aber eindeutig die Regierungspartei und ihre Politik förderte und gleichzeitig offene Feindseligkeit gegenüber der Opposition zeigte“, erklärte das Beobachterteam der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Montag in Warschau.
Mögliche „Jagd auf Überläufer“
Die Bildung einer neuen Regierung wird nicht reibungslos und schnell vonstatten gehen: Vieles hängt noch von Präsident Andrej Duda ab, der ein Verbündeter der PiS ist und der voraussichtlich zunächst der PiS das Mandat zur Bildung einer neuen Regierung erteilen wird. Erst wenn die PiS das Mandat wegen der fehlenden Mehrheit im Parlament zurückgibt, wird Duda dem Oppositionsführer, wahrscheinlich Donald Tusk, das Mandat anbieten. „Diese Regierung wird eine starke und feindselige anti-europäische Opposition haben – PiS und die rechtsextreme Konfederacja [Konföderation] – die mehr als 40 Prozent der Wähler repräsentiert“, sagt ECFR-Warschau-Chef Buras.
Angesichts der vorhersehbaren „Jagd auf Überläufer“, die von der Regierungspartei ausgerufen werden könnee, sagte der Bürgermeister von Warschau, Rafal Trzaskowski – eine prominente Persönlichkeit der KO – im polnischen Fernsehen, er sei „überzeugt, dass es solche Versuche geben wird“, schloss aber aus, dass es so viele Überläufer geben könne, dass „eine neue Regierung verhindert wird“.
Bildungsminister Przemyslaw Czarnek (PiS) warnte, dass „der Krieg bald beginnt“, und bezog sich damit auf die Manöver, mit denen die PiS ihre Konkurrenten in Versuchung führen wird, um sie in ihre Umlaufbahn zu ziehen.
Darüber hinaus haben einige Experten darauf hingewiesen, dass eine solche heterogene Koalition ineffektiv sein könnte und bald in zentrifugale Streitigkeiten verwickelt werden könnte.
„Polen ist zurück“ im europäischen Projekt, aber der Wandel kommt nicht über Nacht
Das (vorläufige) Wahlergebnis wurde in der gesamten EU mit Erleichterung aufgenommen – und wird sich kurz- und mittelfristig in Brüssel auswirken und den Höhenflug der Rechten in Europa deutlich verlangsamen. Die Visegrád-Achse hat die polnischen Wahlen angeschlagen überstanden, da Ungarns Victor Orban einen wichtigen Verbündeten bei seiner Infragestellung der EU-Werte verloren hat.
„Polen ist zurück“, erklärte Manfred Weber, der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), der größten Fraktion im Europäischen Parlament, am Montag in Straßburg.
Der Beifall stieß in anderen EU-Institutionen auf Erleichterung, da sie einen politischen Richtungswechsel in der sechstgrößten Volkswirtschaft der EU in Erwägung zogen, weg von der nationalistisch-populistischen Linie der scheidenden Regierung, die sich in mehreren Fragen offen gegen Brüssel gestellt hatte.
Seit 2015 ist die PiS einer der größten Störer bei den Bemühungen der EU, die Migrations- und Asylpolitik der Gemeinschaft neu zu gestalten. Vor zwei Jahren erklärte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki das EU-Recht – das stärker sein soll als nationale Gesetzgebung – für „unvereinbar“ mit der polnischen Verfassung.
Einige EU-Mitglieder, darunter Frankreich, sahen darin einen Angriff auf die Europäische Union und das, wofür sie stehe. Das Ergebnis war, dass Polen vor den Europäischen Gerichtshof gezerrt wurde, an dem ein Rechtsstreit weitergeht.
Ramona Coman, politische Analystin und Präsidentin des Instituts für Europastudien an der Freien Universität Brüssel (ULB), erklärte, dass es zwar häufig vorkomme, dass sich einzelne Länder darüber beschwerten, dass ihre Interessen auf EU-Ebene mit Füßen getreten würden. Sie sagte auch, dass aber „die polnische und die ungarische Regierung viel weiter gingen, indem sie die Rechtmäßigkeit und Legitimität der Europäischen Union selbst in Frage stellten“.
Die EU ist dabei, „einen Partner zurückzugewinnen, der versöhnlicher, positiver und kompromissbereiter ist“, prognostizierte Lukas Macek, Leiter des Centre Grande Europe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Denkfabrik Jacques Delors Institute in Paris.
Er warnte jedoch vor einer „Schwarz-Weiß-Sicht“ der künftigen Beziehungen: „Nicht alles wird sich radikal ändern. Es wird einen Übergang geben, mit einem geringeren Handlungsspielraum.“
Ursula-Mehrheit gestärkt, Konservative und Reformisten geschrumpft?
Die Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR), deren Vorsitz die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia (FDI) innehat, könnten aus der Abstimmung geschwächt hervorgehen. Da der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nicht mehr an der Regierung ist, könnte sie in den kommenden Monaten vor einem Scheideweg stehen: sich der EVP und damit der Mehrheit anzunähern oder an der Seite ihres polnischen Verbündeten zu bleiben.
Morawiecki und die PiS waren und bleiben eines der Haupthindernisse für ein Bündnis zwischen der FDI und Mitte-Rechts nach den Wahlen. Jetzt, da der polnische Ministerpräsident aus den Wahlen als Verlierer hervorgegangen ist, wird die Verhandlungsmacht der EKR und damit auch der FDI deutlich sinken.
„Wer weiß, was jetzt in der italienischen Politik und in der ECR passieren wird“, meint ein führendes EVP-Mitglied, das nicht verhehlt, dass die Mehrheit von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus den Wahlen in Warschau sicherlich gefestigter hervorgeht. Der neue polnischen Premierminister könnte sein EU-Debüt auf dem Europäischen Rat im Dezember geben.
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