Wenn sich alle EU-Mitgliedstaaten in einer Sache einig sind, dann ist es der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. Doch der Plan der Kommission, wie das im Hinblick auf Missbrauchsmaterial im Internet umzusetzen ist, hat große Meinungsverschiedenheiten zwischen den 27 EU-Mitgliedern ans Licht gebracht.
Die EU-Verordnung zur Verhinderung und Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch (CSAR), oft als „Verordnung gegen sexuellen Kindesmissbrauch“ oder „Chatkontrolle“ bezeichnet, ist in einer entscheidenden Phase des Gesetzgebungsprozesses. Doch nun stockt eben dieser aufgrund von Befürchtungen, dass die digitale Privatsphäre von EU-Bürgerinnen und -Bürgern dadurch verletzt werden könnte.
Die Verordnung soll einen harmonisierten Rechtsrahmen in der EU schaffen, um kinderpornografisches Material (CSAM) im Internet zu erkennen, zu melden und zu entfernen. Sie soll die derzeitigen Übergangsmaßnahmen ersetzen, die eine freiwillige Erkennung durch Provider von Internet-Diensten ermöglichen.
Einem Bericht der britischen Internet Watch Foundation zufolge wurden 62 Prozent des im vergangenen Jahr weltweit identifizierten kinderpornografischen Materials auf Servern innerhalb der EU gehostet.
Befürworterinnen und Befürworter der Richtlinie betonen, dass Kinderpornografie ein sehr schwerwiegendes Verbrechen ist. Sie weisen darauf hin, dass Datenschutzbehörden die Umsetzung der Verordnung genau überwachen würden, und verweisen auf Erfolge der letzten Jahre bei der Ergreifung von Tätern durch freiwillige CSAM-Scans.
Die Verordnung muss sowohl vom Europäischen Parlament als auch von den Mitgliedstaaten angenommen werden – und genau da liegt das Problem.
Mehreren Ländern, die seit 2022 die EU-Ratspräsidentschaft innehatten, ist es nicht gelungen, die Mitgliedstaaten zu einer Einigung zu bewegen. Den jüngsten Versuch unternahm vergangene Woche die dänische Ratspräsidentschaft –- mit dem Aspekt „Chatkontrolle” erneut als zentralem Streitpunkt.
Die dänische Ratspräsidentschaft erklärte am Montag, man sei noch nicht in der Lage, die notwendige Unterstützung für eine Abstimmung im Rat der EU zu sichern. „Deshalb haben wir beschlossen, dass die Diskussionen in den kommenden Wochen besser bilateral zwischen den Ländern und Parteien fortgesetzt werden sollten, bei denen wir versuchen müssen, einen Kompromiss zu finden,“ sagte Justizminister Peter Hummelgaard und fügte hinzu, dass Dänemark einen neuen Kompromissvorschlag vorgelegt habe.
Was steht im CSAR-Vorschlag?
Die sogenannte „Chatkontrolle” basiert auf dem Vorschlag der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2022 zur Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch. Mit ihr wären Online-Dienstanbieter, einschließlich Chat-Apps, soziale Netzwerke und Datenspeicher, gesetzlich verpflichtet, den Inhalt von Nachrichten und gespeicherten Dateien mithilfe von Algorithmen zu durchsuchen. Die Dienstanbieter müssten die zuständigen Behörden über Materialien im Zusammenhang mit Kinderpornografie oder dem Missbrauch von Minderjährigen informieren und die Inhalte entfernen.
Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah vor, dass Online-Dienstanbieter sowohl verschlüsselte als auch unverschlüsselte private Nachrichten auf CSAM-Material scannen („Chatkontrolle“). Das EU-Parlament schlug Änderungen vor, um die Verschlüsselung zu schützen, öffentliche Inhalte zu scannen und sicherzustellen, dass Online-Dienste eingebaute Funktionen für die Kindersicherheit haben.
Was war der Plan?
Der Vorschlag wurde 2022 von der Kommission eingebracht, und das Europäische Parlament legte 2023 seine Position fest. Diese konzentrierte sich auf den Schutz der Privatsphäre und die Begrenzung des Scanning-Umfangs, insbesondere in Ende-zu-Ende-verschlüsselten Bedingungen. Seitdem haben die Mitgliedstaaten vergeblich versucht, eine Einigung zu erzielen.
Die Übergangsregelung, die eine freiwillige CSAM-Erkennung ermöglicht, wurde bis zum 3. April 2026 verlängert. Das soll Kontinuität gewährleisten, während an der dauerhaften Regelung gearbeitet wird.
Dänemark hatte die neueste Version des Vorschlags ausgearbeitet. Notwendige Schutzmaßnahmen seien enthalten: Es sollen erstens nur Bilder und Links – nicht Textnachrichten – gescannt werden. Zweitens würde das System nur nach einer Entscheidung einer unabhängigen gerichtlichen oder administrativen Behörde aktiviert werden.
„Wir müssen sehr klar sein: Unter diesem Vorschlag gibt es keine allgemeine Überwachung der Online-Kommunikation. Es wird keine ‚Chatkontrolle‘ geben,“ sagte Kommissionssprecher Markus Lammert. „Es geht darum, unsere Kinder vor einem schrecklichen Verbrechen zu schützen, einem Verbrechen, das immer häufiger online stattfindet.“
Der Rat sollte am vergangenen Dienstag über den Vorschlag abstimmen, mit der Idee, dass die Trilog-Verhandlungen Anfang 2026 beginnen könnten. Dabei handelt es sich um eine informelle interinstitutionelle Diskussion, die Vertreterinnen und Vertreter des Europäischen Parlaments, des Rates der Europäischen Union und der Europäischen Kommission zusammenbringt. Doch ohne Kompromiss muss das Thema weiter bilateral diskutiert werden.
Was ist das Problem?
Einige Mitgliedstaaten haben sich gegen bestimmte Aspekte der Richtlinie ausgesprochen, obwohl das Ziel der Schutz von Kindern ist. Der Vorschlag stieß auch auf breite Ablehnung von Strafverfolgungsbehörden, Datenschutzbehörden, zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie von großen Technologieunternehmen, die die Hauptanbieter von Messaging-Diensten sind. Kinderschutzorganisationen fanden sich auf beiden Seiten der Debatte wieder.
Ein Gegenargument ist, dass die Gesetzgebung die Tür zur Massenüberwachung öffnen könnte. „Das würde das Ende des Briefgeheimnisses bedeuten, das für Whistleblower unerlässlich ist,“ sagte der deutsche Aktivist und ehemalige EU-Abgeordnete Patrick Breyer. Gegnerinnen und Gegner überfluteten Brüssel mit einer Kampagne, um die Debatte zu beeinflussen.
Elon Musks Social-Media-Plattform X bezeichnete den Vorschlag als „gefährlich“ und forderte Deutschland und Polen – zwei Staaten, die dem Vorschlag kritisch gegenüberstehen – auf, weiterhin dagegen zu stimmen, um „eine Massenüberwachung ihrer Bürgerinnen und Bürger durch Regierungen und schwerwiegende Sicherheitsverletzungen durch böswillige Akteure“ zu verhindern.
Auch die Messaging-App Signal kritisierte den Vorschlag und bezeichnete ihn als „das Ende des Rechts auf Privatsphäre in Europa“. Signal drohte, die EU zu verlassen, falls der Vorschlag angenommen würde.
Meta, die Muttergesellschaft von WhatsApp, sagte, der Vorschlag gefährde Privatsphäre, Freiheit und digitale Sicherheit.
Der dänische Justizminister Hummelgaard betonte auf einer Pressekonferenz am Montag: „Ein Großteil der Erzählung basiert auch auf der Idee, dass EU- oder nationale Behörden private Chats überwachen könnten, und das ist nicht der Fall. Es geht darum, private Unternehmen und Plattformen zu verpflichten, Verantwortung zu übernehmen, um die enorme Verbreitung von kinderpornografischem Material einzudämmen.“
Berlin sagt „Nein“
Viel hing dabei von Deutschland ab. Ohne Deutschland gab es gemäß den Regeln der qualifizierten Mehrheitsentscheidung der EU keine Mehrheit für die Richtlinie im Rat. Doch Berlin trat auf die Bremse und sagte, es werde den Vorschlag bei einer Abstimmung nicht unterstützen. „Anlasslose ,Chatkontrolle’ muss in einem Rechtsstaat tabu sein,“ sagte Justizministerin Stefanie Hubig.
Im Rat der Mitgliedstaaten ist letztlich die Zustimmung von 15 der 27 EU-Staaten erforderlich, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, damit eine Verordnung angenommen wird.
Die Regierungsparteien in Deutschland lehnen eine anlasslose Chatüberwachung ab. „Das wäre so, als würde man vorsorglich mal alle Briefe öffnen und schauen, ob da etwas Verbotenes drin ist,“ sagte Jens Spahn, Fraktionsvorsitzender der konservativen CDU. „Das geht nicht, das wird es mit uns nicht geben.“
Das polnische Ministerium für digitale Angelegenheiten sagte, Polen verteidige die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer und lehne das massenhafte Scannen privater Korrespondenz ab. Gleichzeitig unterstütze es die Einführung von Maßnahmen innerhalb der Europäischen Union, die ein effektives Vorgehen gegen CSAM ermöglichen.
Polnische Politikerinnen und Politiker betonten wiederholt die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen der wirksamen Bekämpfung der Verbreitung von CSAM und dem Schutz der Grundrechte der Internet-Userinnen und -User, wie dem Recht auf Privatsphäre und Online-Sicherheit (einschließlich des Schutzes der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung), zu wahren.
Slowenien unterstützt die aktuelle Version des EU-Vorschlags zur „Chatkontrolle” nicht, sagte das Innenministerium Anfang Oktober. Slowenien betrachtet den Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern als Priorität, setzt sich jedoch gleichzeitig für die Achtung der Grundrechte ein, einschließlich des Rechts auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten.
Die Ministerin für digitale Transformation, Ksenija Klampfer, hält den Vorschlag für eine unverhältnismäßige Maßnahme. „Wir müssen unbedingt den Schutz von Kindern mit allen möglichen Maßnahmen sicherstellen. Aber die Nachrichten aller Bürger nur aufgrund der Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs zu überwachen, ist problematisch und stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre der Kommunikation dar,“ sagte Klampfer.
Die Tschechische Republik hatte ursprünglich geplant, sich zu enthalten, doch die Positionen haben sich verhärtet: „Ich bin froh, dass wir zu dieser Änderung der Position gekommen sind, denn ich glaube, dass wir die Privatsphäre und Freiheit jedes Bürgers schützen müssen,“ sagte Ministerpräsident Petr Fiala im September. „Von Anfang an haben wir diesen Plan nicht unterstützt. Der Vorschlag hat jedoch in letzter Zeit einige Änderungen erfahren, und die Abstimmung wird dringend. Aus diesem Grund spiegelt sich dies auch in der Änderung der Position der Tschechischen Republik wider,“ fügte er hinzu.
In Portugal betrachtet die Regierung den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch als essenziell, betont jedoch, dass Rechte wie die Privatsphäre im Rahmen des europäischen Vorschlags zur Chatkontrolle nicht ungerechtfertigt eingeschränkt werden sollten, so eine offizielle Quelle des Justizministeriums gegenüber der Nachrichtenagentur Lusa. Portugal plädiert daher für eine vorsichtige Herangehensweise und eine interne politische Debatte zu diesem Thema.
Spanien erklärte, es habe stets alle Versuche unterstützt, eine Einigung zu erzielen, und unterstütze den Vorschlag der dänischen Ratspräsidentschaft. Für Spanien sei es entscheidend, den Opfern Antworten zu geben. Das Land zeigt sich besorgt über Daten von NGOs und Institutionen, die auf einen Anstieg solcher Inhalte im Internet hinweisen, und argumentiert, dass mehr Werkzeuge benötigt werden, um dagegen vorzugehen. Gleichzeitig fordert Spanien, dass der Zugang zu Daten mit vollständigen Garantien und unter Einhaltung der Grundrechte erfolgen müsse.
Zu den Ländern, die strengere Maßnahmen bevorzugen oder noch neutral sind, gehören Frankreich, Dänemark und Schweden. Dänemark, das den aktuellen Vorschlag ausgearbeitet hat, bleibt ein starker Befürworter der Verordnung.
Die belgische Regierung hat bisher keine Position zum neuen Vorschlag zur „Chatkontrolle” eingenommen. Während einer Debatte im föderalen Parlament vergangene Woche schien jedoch keine Partei den Vorschlag zu unterstützen. Innenminister Bernard Quintin betonte, dass ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Privatsphäre einerseits und der Bekämpfung der Verbreitung solcher Bilder andererseits gefunden werden müsse. „Eine Lösung muss ausgewogen und verhältnismäßig sein,“ sagte er.
Während die Debatten zwischen den Mitgliedstaaten sowie innerhalb der Regierungen und Zivilgesellschaften weitergehen, warnen Kinderschutzaktivistinnen und -aktivisten, Kinder seien weiterhin gefährdet, solange es keine Einigung gebe. Laut der Kinderschutzorganisation Eurochild wurden allein im Jahr 2023 über 100 Millionen Bilder oder Videos von sexuell missbrauchten Kindern online gefunden – das entspricht etwa 270.000 pro Tag.
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