Korruption auf höchster Ebene, Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und ein zweifelhafter Umgang mit nationalen Minderheiten: Noch Anfang 2022 schien es undenkbar, dass die Ukraine in absehbarer Zeit ein ernstzunehmender Kandidat für den Beitritt zur EU werden kann. Gut 20 Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das osteuropäische Land ist die Welt eine andere.
Die EU-Kommission hat am Mittwoch einen mit Spannung erwarteten Bericht über die Fortschritte der Länder vorgelegt, die einen EU-Beitritt anstreben. Sie versicherte, dass die Ukraine angesichts der Reformen, die sie trotz des anhaltenden Kampfes gegen die russische Invasion umgesetzt hat, bereit ist, über ihren Beitritt zu verhandeln. Dem Bericht der EU zufolge hat die Ukraine vier der sieben als vorrangig eingestuften Reformen abgeschlossen.
„Heute ist ein historischer Tag“, so die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, und fügte hinzu, dass die Empfehlung zehn Jahre nach den Maidan-Protesten in der Ukraine kommt, „als Menschen erschossen wurden, weil sie sich in eine europäische Flagge gehüllt hatten“.
Das positive Signal der EU ist ein wichtiger Impuls für die Ukraine in einer schwierigen Zeit, in der es ihren Truppen nicht gelungen ist, einen Durchbruch zu erzielen, und der Westen von den Unruhen im Nahen Osten abgelenkt ist.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte die Aussagen als „richtigen Schritt“ für Europa. „Unser Land muss in der Europäischen Union sein. Die Ukrainer verdienen es sowohl für ihre Verteidigung der europäischen Werte als auch für die Tatsache, dass wir selbst in Zeiten eines großen Krieges unser Wort halten,“ schrieb er im Internet.
Unmittelbar nach dem Einmarsch Moskaus im Februar 2022 begann die Ukraine, sich um einen EU-Beitritt zu bemühen, und wurde im Juni desselben Jahres offiziell zum Beitrittskandidaten ernannt.
Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU müssen die Empfehlungen noch auf einem Gipfel im Dezember absegnen. Von der Leyen sagte, dass die Ukraine und Moldawien weitere Reformen durchführen müssten, bevor ein formeller Starttermin festgelegt werden könne. Sie sagte, ihre Exekutive werde im März 2024 einen Bericht über die Fortschritte vorlegen. Selbst wenn die Ukraine die Gespräche aufnimmt, steht sie erst am Anfang eines mühsamen Reformprozesses, der sich über Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – hinziehen könnte, bevor sie der EU beitreten kann.
Neben dem Drängen auf Fortschritte für die Ukraine und Moldau schlug Brüssel den Mitgliedstaaten auch vor, Georgien den Kandidatenstatus zu gewähren. Die ehemaligen Sowjetstaaten Moldau und Georgien haben sich zur gleichen Zeit wie die Ukraine beworben.
Was ist mit den westlichen Balkanstaaten?
Der Krieg in der Ukraine hat den ins Stocken geratenen Bemühungen der EU um die Aufnahme neuer Mitglieder neues Leben eingehaucht. Der Block versucht, den russischen und chinesischen Einfluss in Schach zu halten. Zum ersten Mal hat die Kommission jedem Beitrittskandidaten einen Bericht vorgelegt, es geht um zehn Länder. Konkret sind das die Türkei, Georgien, Montenegro, Serbien, Kosovo, Albanien, Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina sowie die Ukraine und Moldawien.
Die slowenische Außenministerin Tanja Fajon argumentierte, dass die Erweiterung um den westlichen Balkan und den Osten nicht nur im Interesse der EU und der neuen Mitglieder liege, sondern auch ein geostrategisches Gebot sei. „Europa wird noch stabiler, sicherer und wohlhabender sein, wenn die Erweiterung abgeschlossen ist,“ sagte sie.
Die Türkei hatte 2005 Beitrittsgespräche aufgenommen, die jedoch in einer Sackgasse stecken. Auch Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien hängen in den Verhandlungen fest. Bosnien und Herzegowina kann auf den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen hoffen.
Offene Türen für Bosnien
BiH erhielt nicht das uneingeschränkte Gütesiegel, da es keinen deutlichen Rückhalt für Gespräche bekam, als es im Dezember EU-Beitrittskandidat geworden war. Die Kommission empfahl die Aufnahme von Verhandlungen, „sobald der erforderliche Grad der Erfüllung der Beitrittskriterien erreicht ist“.
Aber auch die Empfehlung zugunsten von Bosnien und Herzegowina wird als wichtiges politisches Signal gewertet. „Wir öffnen die Tür sehr weit und laden Bosnien ein,“ sagte von der Leyen. „Um durch diese Tür gehen zu können, muss natürlich etwas in Bosnien geschehen.“
Im Erweiterungsbericht heißt es, dass Bosnien und Herzegowina bei den politischen Kriterien Fortschritte gemacht hat, da nach den Wahlen im Jahr 2022 relativ schnell eine funktionsfähige Regierung gebildet wurde. Es begann mit der Umsetzung von Reformen, einschließlich der Erhöhung der Rechtssicherheit. Allerdings werden die Maßnahmen der Behörden der serbischen Entität in BiH, die die verfassungsmäßige Ordnung des Landes untergraben, als problematisch angesehen.
Die Botschaft aus Brüssel stieß im Land auf unterschiedliche Reaktionen, die von Optimismus bis Enttäuschung reichten. Die Vorsitzende des Ministerrats, Borjana Krišto, sagte, dass BiH immer noch die Möglichkeit habe, beschleunigte Fortschritte auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft zu machen. „Das ist ein wichtiger und starker Anreiz für uns alle in den Institutionen von BiH, schneller, besser und intensiver an der Erfüllung aller Kriterien und Prioritäten zu arbeiten,“ sagte Krišto. Der Vorsitzende der BiH-Präsidentschaft, Željko Komšić, erklärte: „Jetzt liegt es an uns!“
„Wir erwarteten eine bedingungslose Empfehlung für die Aufnahme von Verhandlungen und grünes Licht, um ungeachtet aller Unwägbarkeiten in Bezug auf die Zukunft der EU und die Erweiterung mit der eigentlichen Arbeit der Organisation und Durchführung von Verhandlungen zu beginnen,“ schrieb der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik.
Das slowenische Mitglied der Kommission, der für Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarčič, erklärte, dass Bosnien seit dem Erhalt des Kandidatenstatus im vergangenen Jahr „die bisher größte Beschleunigung seines Reformprozesses“ gezeigt habe. Er sei zuversichtlich, dass das Land bald das erforderliche Maß an Übereinstimmung mit den wichtigsten Prioritäten erreiche, die für die Aufnahme von Verhandlungen erforderlich sind, über die die Kommission im März nächsten Jahres entscheiden wird.
Nordmazedonien „muss das Tempo der EU-bezogenen Reformen erhöhen“
Am Mittwoch rief Olivér Várhelyi, EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung, Nordmazedonien dazu auf, „das Tempo der EU-bezogenen Reformen“ zu erhöhen, jetzt, da der „Prozess der Beitrittsverhandlungen begonnen“ habe.
Kommissar Várhelyi zufolge gaben einige Änderungen des Strafgesetzbuchs Anlass zur Sorge, dass sie sich auf eine Reihe von Korruptionsfällen auf höchster Ebene auswirken könnten. „Die Stärkung des Vertrauens in die Justiz und die Bekämpfung der Korruption, unter anderem durch solide Ermittlungen, Strafverfolgung und rechtskräftige Urteile in Korruptionsfällen auf höchster Ebene, sind von zentraler Bedeutung,“ sagte Várhelyi. Bezüglich des Screening-Prozesses sagte der Kommissar, dass die Behörden des Landes ein hohes Maß an Engagement bei der Umsetzung gezeigt hätten, auch was die entsprechenden Verfassungsänderungen beträfe.
Was die Beziehungen Bulgariens zu Nordmazedonien anginge, so sagte der bulgarische Ministerpräsident Nikolai Denkov auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft im Oktober in Granada: „Unsere Position wird sich nicht ändern. Wenn sie [Nordmazedonien] ihre Verfassung überarbeiten, wird ihnen das die Tür öffnen.“ Er bezog sich damit auf das Beharren Sofias auf der Aufnahme bulgarischer Minderheitenrechte in die Verfassung Nordmazedoniens als Vorbedingung für die Aufhebung seines Vetos gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Skopje.
Belgrad nahm Verfassungsänderungen vor
Várhelyi wies darauf hin, dass Serbien Verfassungsänderungen im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Mediengesetze vorgenommen und die Voraussetzungen für die Eröffnung eines weiteren Clusters erfüllt habe. Er sagte auch, dass Serbien Fortschritte bei der Angleichung seiner Außenpolitik an die EU gemacht habe, dass aber das Fehlen von Sanktionen gegen Russland weiterhin Anlass zur Sorge gebe. Er fügte hinzu, Belgrad und Pristina seien aufgefordert, sich konstruktiver am Dialog zu beteiligen und die vereinbarten Vereinbarungen umzusetzen.
„Für unsere Demokratie ist es wichtig, dass überall Fortschritte erzielt werden, in den Medien, aber vor allem in Bezug auf Kosovo und Metohija. Der Bericht enthält nichts Unerwartetes, wir sollten keine revolutionären Veränderungen erwarten. Es ist wichtig, dass wir den europäischen Weg gehen und gleichzeitig unsere nationalen Interessen wahren,“ so der serbische Präsident Aleksandar Vučić.
Albanien erfolgreich auf dem Weg zur EU-Integration
Laut Ursula von der Leyen befindet sich Albanien auf einem erfolgreichen Weg zur Integration in die Europäische Union, wie sie vor dem Gipfeltreffen des Berliner Prozesses im Oktober sagte. Die Kommissionspräsidentin ging auch auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ein. „Wir haben mit unserem 30-Milliarden-Euro-Wirtschafts- und Investitionsplan bereits ein gutes Fundament gelegt. Er zeigt Wirkung. Die Hälfte des Plans, 16 Milliarden Euro, sind bereits eingesetzt,“ sagte sie und verwies auf die Volkswirtschaften des westlichen Balkans und des europäischen Binnenmarktes, die noch zu weit voneinander entfernt seien. „Die Volkswirtschaften der westlichen Balkanländer liegen 35 Prozent unter dem EU-Durchschnitt,“ fügte sie hinzu.
Was ist zu erwarten?
Im Zusammenhang mit dem Beitrittsbestreben der Ukraine und der anderen Beitrittskandidaten gibt es eine weitaus grundlegendere Debatte darüber, wie die EU handhabbar sein kann, wenn sie 30 oder mehr Mitglieder erreicht.
Länder wie die Niederlande bestehen darauf, dass es auf dem Weg zur Mitgliedschaft keine Abkürzungen geben darf. Ungarn, Russlands engster Verbündeter in der EU, wirft Kyiv vor, die Rechte der ethnischen Ungarn zu beschneiden.
Die Aufnahme eines vom Krieg zerrütteten Landes mit mehr als 40 Millionen Einwohnern würde für die EU eine große Umstellung – und enorme Kosten – bedeuten und einige Länder, die derzeit EU-Mittel erhalten, zu Nettozahlern machen.
Rumänien beispielsweise möchte, dass die Republik Moldau und die Ukraine rasch der EU beitreten, aber das bedeute nicht „von heute auf morgen“, sagte Präsident Klaus Iohannis auf einer gemeinsamen Konferenz mit dem belgischen Premierminister Alexander de Croo.
Wir wissen, dass sich diese Beitrittsverhandlungen über Jahre hinziehen, wir wissen aus eigener Erfahrung und sehen, dass sie für einige Staaten des westlichen Balkans bereits sehr lange dauern. Wir wollen natürlich, dass die Verhandlungen schnell beginnen. Damit ist nicht der Beitritt gemeint, sondern die Verhandlungen und die Vorbereitung auf den Beitritt,“ sagte Iohannis.
„Gleichzeitig stimme ich voll und ganz zu, dass die Union ihrerseits einige Änderungen vornehmen muss, und, wenn ich wiederholen darf, was ich auf dem letzten informellen Rat in Granada gesagt habe, müssen nicht nur die Kandidaten auf den Beitritt vorbereitet werden, sondern auch wir, die wir bereits die Europäische Union sind, müssen uns zusätzlich auf diesen Beitritt vorbereiten. Es ist notwendig, die Verfahren zu verbessern, einige Verhandlungsverfahren zu verbessern und so weiter. Es gibt also Arbeit auf beiden Seiten,“ fügte Iohannis hinzu.
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