Die Europäische Kommission hat ihren jährlichen Erweiterungsbericht vorgelegt, in dem sie den Beitrittsprozess der Staaten bewertet, die zukünftig zur Europäischen Union gehören möchten. Dies sind die Ukraine, Moldau, Georgien, Serbien, Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und die Türkei.
Unter den zehn Ländern, die derzeit um einen Beitritt bemüht sind, befinden sich jedoch einige, wie die Türkei und Georgien, die im Wesentlichen auf der Stelle treten.
Ganz oben auf der Liste der EU-Beitrittskandidaten stehen die beiden Balkanländer Montenegro und Albanien. Auch die Ukraine und Moldau haben seit der Einreichung ihrer Anträge im Jahr 2022 wichtige Fortschritte erzielt. Spitzenreiter Montenegro will die Verhandlungen bis Ende 2026 abschließen, während Albanien darauf drängt, sie 2027 abzuschließen. Die Ukraine und Moldau streben das Jahr 2028 an.
Marta Kos, EU-Kommissarin für Erweiterung, sagte, dass das Jahr 2026 ein „Moment der Wahrheit für alle Kandidatenländer” sein werde. Sie betonte, dass ein „vereinter Kontinent die stärkste Antwort auf diejenigen ist, die Europa spalten und destabilisieren wollen”.
Wie stehen die Aussichten für die einzelnen Kandidaten also, und wer gibt das Tempo vor? Hier ein Überblick:
Montenegro und Albanien: Das Spitzenreiter-Duo
In ihrem jährlichen Erweiterungsbericht hebt die Europäische Kommission die raschen Fortschritte Montenegros und Albaniens in ihren jeweiligen Beitrittsprozessen hervor.
Montenegro, das 2012 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen hat, gilt als Spitzenreiter unter den sechs Ländern der Westbalkanregion. Wenn die Reformen fortgesetzt werden, könnten die Verhandlungen bis Ende 2026 abgeschlossen sein. Montenegro hat laut dem Bericht „ein anhaltendes politisches Engagement“ gezeigt und „greifbare Ergebnisse bei der Umsetzung der erforderlichen Reformen und der Fortsetzung des EU-Beitrittsprozesses erzielt“.
In dem Dokument wird aber auch deutlich darauf hingewiesen, dass die demokratischen Institutionen des Landes nach wie vor fragil und anfällig für politische Krisen und potenzielle institutionelle Blockaden sind. Nach Einschätzung der Kommission muss Montenegro seine Bilanz in Bezug auf Strafverfolgungen und Verurteilungen in Korruptionsfällen, insbesondere auf hoher Ebene, sowie die allgemeine Effizienz der Justiz, einschließlich eines Rückstand-Abbaus bei ungelösten Fällen, verbessern.
Die Europäische Kommission kam zu dem Schluss, dass Montenegro im Bereich der Meinungsfreiheit mäßig vorbereitet ist und dass bei der Umsetzung der Reformen einige Fortschritte erzielt wurden. Es wird insbesondere betont, dass Montenegro alle medienbezogenen Gesetze konsequent umsetzen und weiter an den sogenannten EU-Acquis, den EU-Besitzstand – also die Sammlung gemeinsamer Rechte und Pflichten, die das EU-Recht bilden – angleichen muss, um so die rasche Ernennung der Mitglieder des Rates der montenegrinischen Agentur für audiovisuelle Mediendienste (AMU) sicherzustellen.
In dem Dokument wird auch hervorgehoben, dass die Visumpolitik Montenegros nicht vollständig mit der der EU in Einklang steht und dass Montenegro die Abkommen über die Visumbefreiung mit Ländern, deren Staatsangehörige für die Einreise in die EU ein Visum benötigen, kündigen sollte.
Albanien, das seit 2014 Beitrittskandidat für die EU ist, könnte bis Ende 2027 beitreten. Der Bericht über Albanien sieht erhebliche Fortschritte in mehreren Bereichen, wie der Justizreform, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und dem Engagement der albanischen Regierung für die europäische Integration.
Die Kommission betont jedoch, dass die Umsetzung von Reformen und die Konsolidierung des demokratischen Systems Albaniens nach wie vor grundlegende Voraussetzungen sind, beispielsweise im Justizwesen, bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie in Bezug auf die politische Polarisierung und den institutionellen Dialog.
Ukraine und Moldau: schnelle Fortschritte, schwierige Reformen
Dem Bericht der Kommission zufolge muss die Ukraine ihre Reformen beschleunigen, wenn sie ihr selbst gestecktes Ziel erreichen will, den EU-Beitrittsprozess bis Ende 2028 abzuschließen. Das Land „hat trotz der Eskalation des anhaltenden Angriffskriegs Russlands weiterhin bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und starkes Engagement für seinen europäischen Weg gezeigt“, heißt es.
Russland hat im Februar 2022 eine groß angelegte Invasion der Ukraine begonnen. Der Angriff hat den seit langem ins Stocken geratenen Bemühungen um die Aufnahme neuer Mitglieder in den 27-Staaten-Block neuen Schwung verliehen. Brüssel sieht die Erweiterung der EU angesichts der Aggression des Kremls als strategische Priorität an. Die für die Erweiterung zuständige EU-Kommissarin Kos sagte, dass weitere Länder „innerhalb der nächsten Jahre eine realistische Möglichkeit“ seien.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán am Dienstag aufgefordert, Kiews EU-Beitrittsbemühungen nicht länger zu blockieren, da Brüssel trotz Korruptionsvorwürfen die Aufnahme des vom Krieg zerrütteten Landes in die nächste Phase vorantreiben will.
Brüssel warnte vor einem „Rückschritt“ bei den Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung, nachdem Selenskyj gezwungen war, Maßnahmen zur Einschränkung der Unabhängigkeit von Behörden, die gegen Korruption vorgehen, aufgrund der Unzufriedenheit seiner europäischen Unterstützer zurückzunehmen.
In Bezug auf Moldau hat die Kommission festgestellt, dass das Land „aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der Versuche Russlands und seiner Stellvertreter, das Land zu destabilisieren, sowie der Bedrohungen für seine Energieversorgung und -sicherheit weiterhin mit beispiellosen Herausforderungen konfrontiert ist“. Sie fügte hinzu, dass „Moldau dennoch Widerstandsfähigkeit und Reformbereitschaft gezeigt hat“.
„Moldau hat von allen Kandidaten die größten Fortschritte innerhalb eines Jahres erzielt,“ sagte Kommissarin Kos.
Im benachbarten Rumänien hat das Außenministerium erklärt, es begrüße die Unterstützung der Kommission für das Ziel Moldawiens, die Beitrittsverhandlungen bis Anfang 2028 abzuschließen.
Serbien: Proteste und EU-feindliche Rhetorik behindern Fortschritte
In ihrem Bericht bedauert die Kommission, dass sich die Umsetzung der Reformen in Serbien „erheblich verlangsamt“ habe, was auf die zunehmende Polarisierung der serbischen Gesellschaft wegen der seit einem Jahr andauernden Proteste im Land zurückzuführen sei.
Die Kommission wies auf die „anti-europäische Rhetorik hin, die nicht nur in den serbischen Medien zu beobachten ist, sondern auch von politischen Amtsträgern, einschließlich auf höchsten Ebenen, verwendet wird“. Sie forderte die serbischen Behörden nachdrücklich auf, „viel mehr Verantwortung für eine pro-aktive und objektivere Kommunikation über den EU-Beitrittsprozess Serbiens und die EU sowie für die Bekämpfung von Desinformation und Informationsmanipulation zu übernehmen“.
Für Außenminister Marko Đurić und die Präsidentin der Nationalversammlung Serbiens, Ana Brnabić, war die wichtigste Botschaft des Berichts für Serbien jedoch, dass das Land bereit sei, den dritten Bereich des Beitrittsprozesses („Wettbewerbsfähigkeit und integratives Wachstum“) zu beginnen, und dass Serbien in einer Reihe von Bereichen Fortschritte erzielt habe.
Brnabić stimmte der Einschätzung der Kommission zu, dass Serbien bei den Reformen nachgelassen habe: „Ich stimme voll und ganz zu – und das ist in der Tat ein Kritikpunkt –, dass wir bei den Reformen nachgelassen haben. Gestern hat Präsident [Aleksandar] Vučić das ebenfalls wiederholt und alle zuständigen Institutionen aufgefordert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um unsere Reformen zu beschleunigen,“ sagte sie.
Auf die Frage eines Journalisten nach der Notwendigkeit, die oft negative Berichterstattung über die EU in Serbien zu ändern – was auch einer der Kritikpunkte der Europäischen Kommission war –, antwortete Brnabić, dass sie auch da zustimme: „Wir müssen uns bemühen, die Berichterstattung über die EU zu ändern und eine viel positivere – oder zumindest viel weniger kritische – Berichterstattung über die EU zu erreichen, daran besteht kein Zweifel.“
Der Bericht befasste sich auch mit dem Kosovo, einem potenziellen EU-Beitrittskandidaten, und stellte fest, dass das Land trotz „seines klaren Bekenntnisses zu den Werten der EU“ aufgrund der politischen Pattsituation nach den Wahlen im Februar 2025 einen Rückgang des Reformtempos verzeichnet.
Bosnien-Herzegowina: Der Weg zur Stabilität
Trotz politischer Krisen und verlangsamter Reformen in Bosnien-Herzegowina (BiH) hebt der Bericht der Kommission Chancen hervor, die den Beitrittsprozess beschleunigen könnten.
Darin wird betont, dass politische Meinungsverschiedenheiten den Fortschritt negativ beeinflussten und zu Verzögerungen bei den Reformen geführt hätten – aber es seien auch konkrete Fortschritte erzielt worden, insbesondere bei der Angleichung der Rechtsvorschriften in den Bereichen Datenschutz und Grenzkontrolle sowie bei der Unterzeichnung eines Statusabkommens mit der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex.
Trotz der Herausforderungen lobte die Kommission BiH für die Vorlage der Reformagenda, die die Bereitschaft zu weiteren Reformen signalisiert. Die größte Herausforderung bleibt jedoch die Umsetzung der Gesetze zur Justizreform, die vollständig an die EU-Standards angepasst werden müssen, um weitere Fortschritte im Verhandlungsprozess zu ermöglichen.
Die EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas erklärte, dass die EU sich weiterhin für die Stabilität von Bosnien-Herzegowina engagiere und dass die Justizreform sowie die Ernennung eines Verhandlungsführers für die Gespräche mit der EU nach wie vor der Schlüssel für weitere Fortschritte seien.
Nordmazedonien: starke Angleichung in der Außenpolitik
Für Nordmazedonien ist es laut Bericht wichtig, alle Vorbereitungsarbeiten im Zusammenhang mit den Öffnungs-Vergleichsmaßstäben für den Bereich „Grundlagen“ voranzutreiben und abzuschließen. Das Land wurde für seine guten Beziehungen zu anderen Erweiterungsländern und sein anhaltendes Engagement in regionalen Initiativen gelobt.
Die Kommission forderte das Land außerdem nachdrücklich auf, die für den Fortschritt erforderlichen „entsprechenden Verfassungsänderungen“ vorzunehmen, beispielsweise durch die „Aufnahme von Bürgern in die Verfassung, die innerhalb der Staatsgrenzen leben und anderen Völkern angehören, wie beispielsweise Bulgaren“.
Nach einem Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen Johann Wadephul im Oktober hatte der bulgarische Außenminister Georg Georgiew erklärt, Sofia und Berlin seien sich ebenfalls einig, dass Nordmazedonien als ersten Schritt zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen seine Verfassung ändern sollte.
Die Kommission erklärte, das Land habe sich aktiv am neuen Wachstumsplan für den Westbalkan beteiligt und mit der Umsetzung der vier Säulen des Plans begonnen: schrittweise Integration in den EU-Binnenmarkt, regionale wirtschaftliche Integration, grundlegende Reformen und verstärkte finanzielle Unterstützung.
„Nordmazedonien hat sich weiterhin voll und ganz an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU gehalten, auch in Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, und damit ein starkes Signal für seine strategische Entscheidung für den EU-Beitritt gesetzt und sich als verlässlicher Partner erwiesen,“ heißt es in dem Bericht.
Georgien und die Türkei: Die Außenseiter?
Während einige Länder in der jährlichen Überprüfung positives Feedback erhielten, sieht es für Georgien düster aus, da die Regierung des Kaukasusstaats hart gegen Oppositionelle vorgegangen ist und sich Moskau zugewandt hat. „Georgien hat derzeit keinen gangbaren Weg in die EU, es sei denn, die Bedingungen ändern sich dramatisch. Es ist jetzt nur noch nominell ein Kandidatenland,“ sagte Kommissarin Kos.
Auch die Türkei fällt laut dem Bericht durch weitere Rückschritte bei den Grundrechten und Rechtsstaatlichkeitsstandards auf. Gleichzeitig drängt das Land jedoch darauf, Teil der 150 Milliarden Euro schweren Sicherheitsinitiative für Europa (SAFE) der EU zu werden – einem Mechanismus zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten. Obwohl die Türkei technisch gesehen für die SAFE-Initiative in Frage kommt, bedarf es der Zustimmung aller 27 EU-Mitglieder – was aber Griechenland zu blockieren droht.
Wie geht es weiter für die EU-Beitrittskandidaten?
Ein Beitritt zur EU ist mit jahrelangen mühsamen Verhandlungen und umfangreichen Reformen verbunden, und viele Probleme können den Prozess verzögern. Selbst, wenn ein Kandidatenland alle Verhandlungshürden genommen hat, erfordert der Beitritt noch die einstimmige Zustimmung der bestehenden EU-Mitgliedstaaten.
Der polnische Außenminister Radosław Sikorski drückte es so aus: „Die EU-Mitgliedschaft ist keine Verpflichtung, sondern eine freie Entscheidung eines Landes und seiner Bürger.“ Polen gehört zu den Ländern, die betonen, dass die Erweiterung mit einer strikten Einhaltung demokratischer Standards, der Rechtsstaatlichkeit und strategischer Kohärenz einhergehen muss und dass bilaterale Streitigkeiten den Beitrittsprozess nicht blockieren sollten.
Zum ersten Mal hat die Kommission nun ausdrücklich darauf hingewiesen, dass künftige Beitrittsverträge „stärkere Schutzklauseln“ gegen die Nichteinhaltung der während der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen enthalten müssen, um „sicherzustellen, dass die positive Dynamik in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte erhalten bleibt“.
In den Augen vieler Beobachter hat die EU eine schmerzhafte Lektion gelernt, da Länder wie Ungarn die Arbeit der Union behindert und gleichzeitig Rückschritte in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit gemacht haben.
Laut der französischen Nachrichtenagentur AFP erwägt Brüssel auch, neuen Mitgliedern nach ihrem Beitritt für mehrere Jahre das Vetorecht bei Entscheidungen in Bereichen wie der Außenpolitik vorzuenthalten.
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