Nach den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr hat Bosnien und Herzegowina (BiH) zügig eine neue Regierung gebildet und ist einer EU-Mitgliedschaft einen großen Schritt näher gekommen, als es nach vielen Jahren des Wartens den Kandidatenstatus erhielt. Innenpolitische Probleme sorgen jedoch für die größte politische Krise seit dem Friedensabkommen von Dayton von 1995, das den Krieg in den 1990er Jahren beendet hat. Sie könnte die Region destabilisieren und die euro-atlantische Zukunft des Landes gefährden.
Das Dayton-Abkommen teilte Bosnien und Herzegowina in zwei Entitäten: eine bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska (RS). Sie sind durch eine schwache Zentralregierung miteinander verbunden.
Bosnischer Serbenführer Dodik auf Kollisionskurs mit dem internationalen Gesandten Schmidt
Der Präsident der mehrheitlich bosnisch-serbischen Republika Srpska, Milorad Dodik, ein Verbündeter des Kremls, übt seit Jahren einen enormen Einfluss auf die serbische Entität des Landes aus und hat häufig ethnische Spannungen geschürt.
In den letzten Wochen unterzeichnete Dodik zwei umstrittene Gesetze, die beide als aufrührerische Rhetorik und sezessionistische politische Maßnahmen betrachtet werden und nach Ansicht Washingtons das Friedensabkommen von Dayton untergraben. Heftige Reaktionen kamen auch von der bosnisch-kroatischen Föderation sowie aus Paris, Rom und Berlin.
Denis Bećirović, Mitglied der Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina, erklärte, dass Dodik „das Friedensabkommen von Dayton sowie die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina und damit Frieden und Sicherheit offen bedroht“.
Mit dem ersten von Dodik am 7. Juli unterzeichneten Gesetz werden Gerichtsurteile des bosnischen Verfassungsgerichts nicht mehr anerkannt. Das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina besteht aus neun Richtern, von denen drei vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gewählt werden. Die anderen vier werden von der Föderation und zwei von der RS gewählt. Dodik fordert, dass die ausländischen Richter durch einheimische ersetzt werden. Außerdem behauptet er, dass das unbewegliche Vermögen in der RS bosnisch-serbisches Eigentum ist und nicht dem Staat gehört. Laut Dodik werden die Urteile des bosnischen Verfassungsgerichts in der RS solange nicht angewandt bis es reformiert ist.
Das zweite Gesetz ermöglicht es der bosnisch-serbischen Entität, Entscheidungen des obersten internationalen Gesandten in Bosnien und Herzegowina, derzeit Christian Schmidt, zu umgehen oder zu ignorieren. US-Außenminister Antony Blinken twitterte am 8. Juli, dass Dodiks Unterzeichnung eines Gesetzes, das die Autorität des internationalen Gesandten ablehnt, „gegen die Verfassung von Bosnien und Herzegowina verstößt und das Dayton-Abkommen untergräbt“. Die US-Botschaft in Sarajevo bezeichnete das Gesetz als „vorsätzlichen Angriff auf das Friedensabkommen von Dayton“.
Am 9. Juli traten beide Gesetzesentwürfe, die im vergangenen Monat von bosnisch-serbischen Gesetzgebern verabschiedet worden waren, mit ihrer Veröffentlichung in der Republika Srpska offiziell in Kraft.
Schmidt kritisierte die bosnisch-serbischen Behörden scharf und sprach von einem „Angriff auf das bosnische Verfassungsgericht“ und einem „Versuch, den rechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen des Landes zu bedrohen, einschließlich der Schlüsselelemente wie die Entscheidungen des Hohen Repräsentanten“. Er fügte hinzu: „Die politischen Vertreter der RS versuchen, die Rechtsstaatlichkeit zu gefährden und Chaos zu stiften. Von nun an werden alle Handlungen, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung von Bosnien und Herzegowina verstoßen, als Straftatbestand behandelt werden. Und die Verantwortlichen werden strafrechtlich verfolgt.“ Die neue Maßnahme würde es der bosnischen Justiz ermöglichen, Politiker, die sich den Anordnungen Schmidts und des Verfassungsgerichts widersetzen, mit Strafen von bis zu fünf Jahren Gefängnis zu belangen.
Dodik zeigte sich jedoch trotzig und wetterte in einem Brief an das Büro des Hohen Repräsentanten gegen Schmidt. „Der Hohe Repräsentant in Bosnien existiert nicht, und es ist widerlich und illegal, sich selbst falsch darzustellen“, schrieb Dodik.
Der bosnische Serbenführer weigert sich, Schmidts Autorität anzuerkennen, seit das Amt aufgrund einer Intervention Moskaus und Pekings den Rückhalt des UN-Sicherheitsrats verloren hat.
Milorad Dodik unterhält gute Beziehungen zu den serbischen Behörden und macht in seinen Äußerungen keinen Hehl daraus, dass er mit der Unterstützung des offiziellen Belgrads für seine Ansichten rechnet, die im Westen auf Verurteilung stoßen. Am 24. April erklärte der serbische Präsident Aleksandar Vučić, er habe nie etwas gegen BiH und dessen Integrität gesagt. „Ich bin bestrebt, den Frieden und die Stabilität in der Region auf jede erdenkliche Weise zu erhalten“, sagte Vučić.
Am 2. Juli kündigte Dodik, der sich seit langem für eine Abspaltung einsetzt, ein mögliches Referendum über den Status der Republika Srpska noch in diesem Jahr an.
Der Weg zum Autoritarismus
Am 20. Juli verabschiedete das bosnisch-serbische Parlament ein Gesetz, das Verleumdung unter Strafe stellt. Kritiker sagen, dass dieser Schritt darauf abzielt, kritische Stimmen in der bosnisch-serbischen Entität zum Schweigen zu bringen. Die US-Botschaft in Sarajevo warnte: „Diejenigen, die diese repressive Gesetzgebung eingeführt und unterstützt haben, haben die Republika Srpska einen Schritt weiter auf dem Weg zum Autoritarismus gebracht“, und fügte hinzu, dass dies auch die euro-atlantische Zukunft des Landes gefährde.
Bedroht Dodik Bosniens Weg in die EU?
Die Nationalversammlung der RS „hat nicht die Befugnis zu beschließen, die Entscheidungen des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina nicht anzuwenden“, sagte eine Sprecherin des Europäischen Auswärtigen Dienstes und fügte hinzu, dass die Abstimmung „daher ohne Rechtsgrundlage“ sei und „eine klare Abweichung von den Erwartungen, die mit der Gewährung des EU-Kandidatenstatus einhergingen“, darstelle.
„Die Aussetzung der Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der wichtigsten EU-Prioritäten ist bedauerlich“, so die Sprecherin weiter. „Die EU hat immer wieder bewiesen, dass sie ein loyaler Partner von Bosnien und Herzegowina ist und sich eindeutig für das Land und seine Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft als einheitliches, geeintes und souveränes Land einsetzt,“ fügte sie hinzu.
Der Repräsentant der bosnischen Kroaten in Bosnien und Herzegowina, Vorsitzender der Kroatischen Demokratischen Union Bosnien und Herzegowinas (HDZ BiH) und der Kroatischen Nationalversammlung (HNS BiH), Dragan Čović, wies darauf hin, dass der Großteil des mit EU-Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi vereinbarten Pakets bis Oktober umgesetzt werde. Er betonte, dass dies auch das Wahlgesetz und die Reform des Verfassungsgerichts von BiH einschließen würde.
Das Wahlgesetz wird seit Jahren debattiert. Kroatien betont, dass es notwendig sei, alle Bestimmungen in der Verfassung zu streichen, die nationale Minderheiten diskriminieren, und die Gleichheit der drei konstituierenden Nationen in Bosnien und Herzegowina zu gewährleisten. So wurde beispielsweise der bosnisch-kroatische Repräsentant Željko Komšić bisher in vier Wahlen von der nichtkroatischen Mehrheit in die dreiköpfige Präsidentschaft gewählt.
Daher fordert Kroatien und die bosnischen Kroaten eine Bestimmung in der Verfassung und im Wahlgesetz an, die es einer Ethnie unmöglich machen würde, die Vertreter einer anderen Nation zu wählen. Dies wurde teilweise vom Hohen Repräsentanten unterstützt, der am Vorabend der Wahl eine Wahlreform durchsetzte. Kritiker sagen, dass solche Schritte zu einer weiteren institutionellen Zersplitterung führen und hauptsächlich darauf abzielen, den Sieg der christlich-demokratischen Partei HDZ in den bosnisch-kroatischen Wahlkreisen zu sichern.
Können die EU-Verhandlungen bis Ende des Jahres beginnen?
Letzte Woche fand in Brüssel zum ersten Mal der Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-Bosnien und Herzegowina statt, seit das Land im Dezember letzten Jahres den Kandidatenstatus erhalten hatte. Dabei wurden die Fortschritte des Landes überprüft.
Kroatien betonte, dass es in seinem Interesse sei, ein funktionierendes und stabiles Bosnien und Herzegowina in seiner Nachbarschaft zu haben. Außenminister Gordan Grlić Radman erklärte am 19. Juli, Kroatien werde sich für die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt Bosniens und Herzegowinas zur Europäischen Union bis Ende dieses Jahres einsetzen.
Die slowenische Außenministerin Tanja Fajon sagte, sie glaube, dass Bosnien und Herzegowina auf einem guten Weg sei, nachdem dem Land im vergangenen Jahr der Kandidatenstatus zuerkannt wurde, für den sich Slowenien stark eingesetzt hatte.
„Wenn man bedenkt, dass das Land sehr schnell Regierungsstrukturen auf allen Ebenen gebildet hat, so schnell wie nie zuvor in seiner Geschichte (…), erwarten wir, dass es jetzt sehr ehrgeizige Reformen durchführen wird. Das Ziel ist, dass die Beitrittsgespräche bis zum Ende des Jahres beginnen“, sagte die Ministerin. Sie fügte hinzu, dass ein großer Teil der wichtigsten Prioritäten noch nicht erfüllt sei.
Keine EU-Sanktionen gegen den bosnischen Serbenführer Dodik
Am 12. Juli forderte das Europäische Parlament gezielte Sanktionen gegen Milorad Dodik, gegen den die USA und das Vereinigte Königreich bereits Sanktionen verhängt haben, sowie gegen andere hochrangige Beamte der Republika Srpska wegen sezessionistischer Aktionen im Land.
Der Bericht zu Bosnien und Herzegowina, der mit 530 Stimmen bei 68 Gegenstimmen und 33 Enthaltungen angenommen wurde, prangert die „wiederkehrende aufrührerische Rhetorik und die sezessionistischen Gesetze und Maßnahmen der Führung der RS“ an. Die Abgeordneten warnten, dass „mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Krieges das Land immer noch mit Spaltungen konfrontiert ist, die von den politischen Eliten gefördert werden, und mit Sezessionsversuchen“ der RS. Solche Aktionen destabilisieren BiH, widersprechen seiner EU-Perspektive und gefährden den Zugang zu EU-Finanzmitteln, heißt es in dem Bericht. Schließlich forderten die Abgeordneten BiH auf, seine Vorbereitungen für die EU-Beitrittsverhandlungen zu verstärken.
Ungarn sprach sich jedoch gegen die Verhängung von Sanktionen gegen Dodik aus. In einer Rede in Banja Luka am 5. Juli bekundete der ungarische Außenminister Peter Szijjarto seine volle Unterstützung für den bosnischen Serbenführer. „Wir unterstützen Dodik und stehen ihm für Sie, für die Serben in Bosnien und Herzegowina, zur Seite, denn Sie haben entschieden, dass er Ihr Präsident ist“.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.