Eine seltsame Warnung verbreitet sich seit einiger Zeit in Artikeln und Beiträgen auf Sozialen Netzwerken: Die Einwanderung nach Europa sei Teil eines ausgetüftelten Plans, um einen „Genozid an den europäischen Völkern zu begehen“. Das sei im sogenannten Kalergi-Plan festgelegt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings schnell, dass es sich hierbei um eine komplett erfundene Verschwörungserzählung handelt. Eine Erzählung allerdings, die in rassistischen und antisemitischen Kreisen gut gedeiht.

Bewertung

Einen Kalergi-Plan gibt es nicht und hat es nie gegeben – außer in den Köpfen von Verschwörungsgläubigen. Die Behauptung wurde von einem bekannten Holocaust-Leugner in die Welt gesetzt und seither verwendet, um rassistische und antijüdische Stimmungen zu schüren.

Fakten

Viele Verschwörungsgläubige scheinen immer wieder Mühe zu haben, die Unterschiede zu erkennen zwischen einer Vorhersage („Morgen wird es regnen“), einem Wunsch („Hoffentlich wird es morgen regnen“) und einem Plan („Ich werde die Wolken so manipulieren, dass es morgen regnet“). So sahen sie beispielsweise in einer Übung bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2021 fälschlicherweise den Plan für eine Verbreitung der Affenpocken.

Bei der antisemitischen und rassistischen Komplotttheorie rund um den sogenannten Kalergi-Plan ist es das gleiche Muster: Aus einer Vorhersage zur zunehmenden Vermischung der Völker aus dem Jahr 1925 wird ein angeblicher Plan für einen „Genozid an den Völkern Europas“ konstruiert.

Zwar kann bei näherer Betrachtung keine Rede sein von irgendeinem Plan, dennoch taucht ein „Coudenhove-Kalergi-Plan“ häufiger in Diskussionen über Migration auf. Das Narrativ macht in verschiedenen Ländern online die Runde und dient als Vorlage für eine spezifisch europäische Version der falschen Erzählung über eine sogenannte Umvolkung und einen angeblichen Völkermord an weißen Menschen, die in extremistischen Kreisen zirkuliert.

Graf Coudenhove-Kalergi

Richard Coudenhove-Kalergi war ein österreichischer Aristokrat mit mütterlicherseits japanischen Wurzeln, der vor allem mit seinem Einsatz für ein paneuropäisches Projekt bekannt wurde. Damit reagierte er vor allem auf die Gräuel des Ersten Weltkriegs und verfolgte das Ziel, den Kontinent in einer Gemeinschaft zu vereinigen, um künftige Kriege zu verhindern.

Er war einer der ersten Vorkämpfer für ein vereintes Europa, was ihm die Feindschaft von Adolf Hitler einbrachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich weiter für sein paneuropäisches Projekt ein. Obwohl er sicherlich Einfluss auf das Zustandekommen der Europäischen Union hatte, wird er nicht direkt zu ihren eigentlichen Gründern gerechnet. Nach seinem Tod wurde der Coudenhove-Kalergi-Preis ins Leben gerufen, der an Menschen vergeben wird, die sich für die Einheit Europas eingesetzt haben, wie etwa die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Warum aber taucht der Name dieses Vorkämpfers für ein vereintes Europa im Zusammenhang mit einer abstrusen Verschwörungstheorie über die Migration auf?

Schlampig zitiert

Ursprung mancher Behauptungen – etwa in diversen niederländischen Artikeln – ist ein englischsprachiger Text von der Website „The Exposé“, die schon häufiger mit Falschbehauptungen aufgefallen ist. Darin wird eine Veröffentlichung von Coudenhove-Kalergi aus dem Jahr 1925 mit dem Titel „Praktischer Idealismus“ zitiert.

Dies soll beweisen, dass der Autor eine Vermischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft anregte, mit dem angeblichen Ziel, die europäische Bevölkerung von Juden beherrschen zu lassen. Es geht um ein paar Sätze auf den Seiten 22 und 23, in denen Coudenhove-Kalergi vorhersagt, dass sich Völker aus verschiedenen Gründen künftig mehr und mehr mischen und schließlich den alten Ägyptern ähneln werden.

Dabei wird jedoch ausgesprochen nachlässig zitiert. Die ersten drei Sätze des Zitats finden sich auf den Seiten 22 und 23 des Buchs aus dem Jahr 1925. Die folgenden zitierten Sätze finden sich jedoch 27 Seiten weiter hinten, obwohl der Text als ein zusammenhängendes Zitat dargestellt wird. In der englischen und niederländischen Version wird auch nicht wörtlich übersetzt, manche Wörter fehlen.

Die Idee eines „Kalergi-Plans“ beruht also auf Zitaten, die aus dem Kontext gerissen wurden und so ein falsches Bild der Gedankenwelt des Österreichers wiedergeben, wie sowohl die Faktenchecker von Politifact als auch der Coudenhove-Kalergi-Biograf Martyn Bond in einem Podcast (ab 45:20) bestätigen.

Erfindung eines Holocaust-Leugners

„The Exposé“ gibt an, dass ihr Artikel auf einem italienischen Artikel aus dem Jahr 2012 beruht. Darin wird ausführlich ein Mann zitiert, der als erster von einem „Kalergi-Plan“ fabulierte: Gerd Honsik (der in dem Artikel von „The Exposé“ übrigens nicht erwähnt wird).

Anfang der 2000er-Jahre veröffentlichte Honsik, ein mehrfach wegen der Leugnung des Holocaust verurteilter antisemitischer österreichischer Schriftsteller, ein Pamphlet über Kalergi. Darin wird der angebliche Plan zum ersten Mal erwähnt. Grundlage sind ebenfalls die genannten Sätze aus dem „Pragmatischen Idealismus“.

Die erfundene Verschwörung stammt also ausgerechnet von einem Mann, der die Existenz der Gaskammern bestritt. Trotzdem lebt der von Honsik erfundene „Plan“ munter fort in den Köpfen von Verschwörungsgläubigen, die hinter gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Migration stets eine steuernde (böse) Macht sehen. Der Vollständigkeit halber: Die Europäische Kommission hat die Frage, ob der Kalergi-Plan die Grundlage der europäischen Migrationspolitik sei, im Jahr 2019 verneint.

Links

dpa-Faktencheck zur Sicherheitskonferenz

Komplotttheorie Kalergi-Plan (archiviert)

Politifact über Komplotttheorie (archiviert)

Verschwörungsdenken über Migration (archiviert)

Vice (italienisch) über die Verbreitung (archiviert)

Artikel South Poverty Law Center (archiviert)

NPO-Artikel (Niederländisch) (archiviert)

BPB zur Islamisierung (archiviert)

Artikel Right Wing Watch (archiviert)

Biografie Coudenhove-Kalergi (archiviert)

BPB zu Coudenhove-Kalergi (archiviert)

Artikel College of Europe (archiviert)

Wegbereiter der EU (archiviert)

Coudenhove-Kalergi-Preis (archiviert)

Artikel Dissident One (archiviert)

Artikel Stichting JAS (archiviert)

Artikel Frontnieuws (archiviert)

Artikel The Exposé (archiviert)

Praktischer Idealismus (archiviert)

Politifact (archiviert)

Martyn Bond (archiviert)

Podcast mit Martyn Bond (archiviert)

Italienischer Artikel (archiviert)

Haaretz und The Times of Isreal über Honsik (archiviert hier und hier)

BBC über Verschwörungstheorie (Spanisch) (archiviert)

Frage an die EU-Kommission (archiviert)

Antwort der EU-Kommission (archiviert)

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