NATO-Chef Mark Rutte betonte am Montag vor EU-Abgeordneten, dass Europa seine Verteidigungsausgaben massiv aufstocken müsse. „Wir sind jetzt sicher, aber in fünf Jahren sind wir vielleicht nicht mehr sicher“, sagte er.
Der ehemalige niederländische Ministerpräsident warnte, das NATO-Ziel, dass Mitglieder zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aufwenden sollen, nicht annähernd ausreiche, um der wachsenden Gefahr durch Russland zu begegnen. NATO-Länder müssten möglicherweise 3,6 bis 3,7 Prozent ihres BIP für die Verteidigung ausgeben, um den Bedrohungen zu begegnen, fügte er hinzu.
Rutte steht seit Oktober an der Spitze der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO), einem 32 Nationen starken Militärbündnis, nachdem er 14 Jahre lang Ministerpräsident der Niederlande war.
Moskaus groß angelegter Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 war nach Jahren der Vernachlässigung nach Ende des Kalten Krieges ein Weckruf für Europa und seine unterfinanzierte Verteidigungsindustrie. Doch obwohl die Länder seither ihre Militärbudgets aufgestockt haben und die EU zahlreiche Anstrengungen unternommen hat, um die Produktion zu erhöhen, liegt die europäische Rüstungsproduktion immer noch weit hinter der Russlands zurück.
Rutte forderte die Europäische Union ausdrücklich auf, keine Hindernisse zu errichten, die Unternehmen in NATO-Ländern, die nicht Teil der EU sind, davon abhalten könnten, sich an ihren Bemühungen um eine stärkere Verteidigungsindustrie zu beteiligen.
Auf einer von der Denkfabrik Carnegie Europe im Dezember in Brüssel organisierten Konferenz hatte Rutte die Verbündeten bereits aufgefordert, die Militärausgaben zu erhöhen und eine Kriegsmentalität an den Tag zu legen, um einen nächsten Konflikt auf ihrem Gebiet zu vermeiden.
„Was in der Ukraine geschieht, könnte auch hier geschehen. Und unabhängig vom Ausgang dieses Krieges werden wir in Zukunft nicht sicher sein, wenn wir nicht darauf vorbereitet sind, mit der Gefahr umzugehen.“
Mark Rutte, Generalsekretär der NATO
Europas „Big Bang“ in der Verteidigung
Rutte griff damit eine Aussage des ersten europäischen Kommissars für Verteidigung, Andrius Kubilius, auf, der am Samstag in einem Beitrag in den sozialen Medien erneut einen „Big Bang“ in der Verteidigung forderte.
Der Vorstoß für eine stärkere europäische Verteidigung wird durch die Forderung des designierten US-Präsidenten Donald Trump an die NATO-Mitglieder befeuert, ihre Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP zu erhöhen. Trump unterstreicht damit seine langjährigen Behauptungen, dass die NATO-Mitglieder zu wenig für den Verteidigungsschirm der USA zahlen.
Trump ist seit langem skeptisch gegenüber der NATO, dem Eckpfeiler der Sicherheit in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, und wiederholte im vergangenen Monat seine Drohung, das Bündnis zu verlassen, wenn die Mitglieder ihre Ausgaben nicht erhöhen.
Trump tritt sein Amt fast drei Jahre nach dem Einmarsch Russlands an, zu einem Zeitpunkt, wo die erschöpften ukrainischen Streitkräfte an der Front zurückgedrängt werden. Die EU-Außenpolitikchefin Kaja Kallas bekräftigte letzte Woche, sie hoffe, dass die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung für Kiew aufrechterhalten würden – aber dass Europa bereit sei, die Führung zu übernehmen, falls dies nicht der Fall sei.
In seinem Beitrag vom Samstag präsentierte EU-Verteidigungskommissar Kubilius eine von der Wochenzeitschrift The Economist veröffentlichte Grafik, die die Position der 27 EU-Mitgliedstaaten auf der Grundlage ihrer Entfernung in Kilometern von Russland und des Anteils ihres BIP, den sie im Jahr 2023 für Verteidigung ausgeben, zeigt.
Der Grafik zufolge liegen Länder wie Irland, Portugal und Spanien am unteren Ende der Skala, während Länder in der Nähe Russlands wie Estland und Polen an der Spitze stehen.
Die NATO hat für 2023 ein Mindestniveau für die Verteidigungsausgaben von zwei Prozent des BIP festgelegt. Russlands Krieg in der Ukraine veranlasste das Militärbündnis dazu, seine Ostflanke zu stärken und die Ausgaben zu erhöhen.
Die meisten ihrer 32 Mitglieder werden das Zwei-Prozent-Ziel im Jahr 2024 erreichen, aber einige haben nach Schätzungen der NATO immer noch Probleme damit.
Schätzungen der NATO-Verteidigungsausgaben zeigen Lücken auf
Polen und Estland führen die Rangliste mit einem geschätzten Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP von 4,12 bzw. 3,43 Prozent an, wie aus den NATO-Schätzungen von Mitte Juni 2024 hervorgeht. Die beiden EU-Mitglieder werden dicht gefolgt von den Vereinigten Staaten (3,38 Prozent).
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen teilte die Einschätzung von NATO-Chef Rutte, dass die NATO-Länder möglicherweise mehr als das derzeitige Ziel ausgeben müssen. Während Dänemark mit geschätzten 2,37 Prozent des BIP für 2024 bereits über dem Ziel liegt, sagte Frederiksen, dass Dänemark „mehr aufrüsten wird, und das wird teuer werden“.
Deutschland, die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union, wendete den NATO-Daten zufolge 2,12 Prozent seines BIP für die Verteidigung auf. Im November unterzeichneten der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall und Litauen einen Vertrag über den Bau einer 180 Millionen Euro teuren Munitionsfabrik zur Herstellung von Artilleriegranaten in dem EU- und NATO-Mitgliedstaat Litauen, der an Russland grenzt.
Mit einem geschätzten Anteil von 2,18 Prozent für 2024 übertraf Bulgarien ebenfalls das Ziel der Allianz. Bereits im Oktober erklärte Verteidigungsminister Atanas Zapryanov, dass in Bulgarien ein wachsender Konsens über die Notwendigkeit bestehe, die Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des BIP zu erhöhen.
Auch das benachbarte Nordmazedonien wendete nach den Schätzungen der NATO für 2024 2,22 Prozent seines BIP für die Verteidigung auf.
Nach Angaben des tschechischen Verteidigungsministeriums hat die Tschechische Republik auch im vergangenen Jahr die Zwei-Prozent-Verpflichtung erfüllt. Nach den NATO-Schätzungen für 2024 gab das Land 2,10 Prozent seines BIP für die Verteidigung aus.
Der tschechische Präsident Petr Pavel sagte letzte Woche, es sei realistisch, dass die Ausgaben bis 2030 auf 3 Prozent des BIP steigen werden. In einem Gespräch mit dem tschechischen Rundfunk betonte er jedoch, dass sich die Verteidigungsausgaben an einem begründeten Bedarf auf der Grundlage von Sicherheitsbedrohungen orientieren sollten, anstatt über Prozentsätze zu diskutieren, die seiner Meinung nach irreführend seien.
Zu den Ländern, die hinter dem Zwei-Prozent-Ziel zurückbleiben, gehören Spanien (1,28 Prozent), Slowenien und Luxemburg (1,29 Prozent), Belgien (1,30 Prozent), Kanada (1,37 Prozent), Italien (1,49 Prozent), Portugal (1,55 Prozent) und Kroatien (1,81 Prozent).
Der portugiesische Verteidigungsminister Nuno Melo betonte letzte Woche, dass Portugal das Ziel bis 2029 erreichen wolle, was aber nicht bedeute, dass diese Ziele nicht den Umständen angepasst werden könnten. Im Dezember erklärte Premierminister Luís Montenegro, die Regierung werde „versuchen, Ressourcen für alle Bereiche, einschließlich der Verteidigung, bereitzustellen“.
Slowenien liegt zwar hinter den Zielvorgaben zurück, hat aber sein geplantes Verteidigungsbudget erheblich aufgestockt. Im Haushalt 2025 sind über 1,2 Milliarden Euro vorgesehen – ein Anstieg um ein Fünftel gegenüber dem Vorjahr – und für 2026 sind mehr als 1,3 Milliarden Euro geplant.
Zu den Vorschlägen zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben gehört die Forderung von EU-Ländern wie Frankreich und Estland, diese Ausgaben durch eine gemeinsame Kreditaufnahme zu finanzieren. Dies ähnelt dem Ansatz, mit dem Europa seine Erholung von der Covid-19-Pandemie finanziert hat. Andere Länder wie Deutschland und die Niederlande haben sich jedoch bisher gegen eine solche Initiative ausgesprochen.
Griechenland, das den NATO-Schätzungen für 2024 zufolge bemerkenswerte 3,08 Prozent des BIP aufwandte, befürwortet die Einrichtung eines Fonds in der EU zur Finanzierung gemeinsamer Verteidigungsausgaben. Im Dezember sagte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis – der sich für Eurobonds für die Verteidigung einsetzte – dass dies die Mobilisierung europäischer Ressourcen„ und die Schaffung eines europäischen Verteidigungsfonds“ erfordere.
EU-Klausur zum Thema Verteidigung
Die Staats- und Regierungschefs der EU werden am 3. Februar zu einer informellen Klausurtagung im etwa eine Stunde von Brüssel entfernten Château de Limont, zusammenkommen, um zu diskutieren, wie der europäischen Verteidigung neue Impulse verliehen werden können.
„Europa muss mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen“, schrieb der Präsident des Europäischen Rates, António Costa, am Montag in seiner Einladung an die Staats- und Regierungschefs der EU zu der Klausurtagung.
„Ich glaube, dass wir die Bedrohungen, mit denen Europa konfrontiert ist, ähnlich einschätzen“, sagte er. Russlands Aggression gegen die Ukraine bedeute die Rückkehr eines “hochintensiven Krieges” auf den Kontinent und zugleich eine zunehmende Bedrohung durch hybride und Cyber-Angriffe gegen EU-Mitgliedstaaten, fügte er hinzu.
Zu dieser Klausur hat Costa auch NATO-Chef Mark Rutte und den britischen Premierminister Keir Starmer eingeladen.
Die Gespräche finden zu einem entscheidenden Zeitpunkt statt: Die wichtigsten Unterstützer der Ukraine, Großbritannien und die EU, verfolgen die Versprechen des designierten US-Präsidenten Trump, den Konflikt nach seinem Amtsantritt am 20. Januar schnell zu beenden, mit Argusaugen.
Das Treffen im Februar wird in ein geplantes Weißbuch über die Zukunft der europäischen Verteidigung einfließen, und das Thema soll auf einem EU-Gipfel im Juni erneut behandelt werden.
Dieser Artikel wird zweimal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf den Nachrichten der am European Newsroom beteiligten Agenturen.