Die Europäische Kommission will Zahlungen an Ungarn in Höhe von 7,5 Milliarden Euro wegen Korruptionsvorwürfen und Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zurückhalten, hat Haushaltskommissar Johannes Hahn am 18. September in Brüssel gesagt.
„Der heutige Beschluss ist ein klarer Beleg für die Entschlossenheit der Kommission, den EU-Haushalt zu schützen und für dieses wichtige Ziel alle uns zur Verfügung stehenden Instrumente zu nutzen“,
sagte Hahn.
Verschiedene EU-Organe haben Viktor Orban vorgeworfen, die Demokratie in Ungarn zu demontieren, bei der weit verbreitete Korruption im Land wegzuschauen und die Rechtsstaatlichkeit zu missachten. Dennoch ist es das erste Mal, dass die Kommission den Versuch unternimmt, EU-Haushaltsgelder wegen Bedenken über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsstaat zu kürzen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen leitete im April dieses Jahres den Prozess ein, indem sie den 2021 eingeführten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auslöste. An dessen Ende könnte die Kürzung von Mitteln stehen. Dieser wird auch Konditionalitätsmechanismus genannt und soll sicherzustellen, dass sich die EU-Mitgliedstaaten an die allgemeinen Grundsätze der Europäischen Union halten. Ein wichtiges Kriterium für die Inanspruchnahme des Mechanismus ist die Frage, ob der Verdacht besteht, dass EU-Gelder missbraucht werden.
Ungarn hat eine gewisse Bereitschaft gezeigt, das Problem anzugehen. Unter anderem plant das Land eine unabhängige Behörde zu schaffen, die die Verwendung von EU-Geldern überwachen soll. Budapest könnte das Einfrieren der Gelder noch abwenden, wenn es die Gründe, die zu dem Vorschlag geführt haben, vor Fristablauf beseitigt. Die EU-Kommission hat erklärt, dass dies eine Möglichkeit sei, aber nur bei ordnungsgemäßer Umsetzung.
Das Einfrieren von Geldern muss nun innerhalb eines Monats von den übrigen Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. Ein Beschluss der Mitgliedstaaten könnte die Frist um zwei weitere Monate verlängern. Um die Gelder tatsächlich zu blockieren, müsste eine Mehrheit von 15 EU-Ländern, welche 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, dem Plan zustimmen. Wie haben die Hauptstädte der anderen EU-Staaten reagiert?
Polen unterstützt Ungarn
Warschau versicherte am 18. September, dass es sich „jedem Schritt“ Brüssels widersetzen werde, Ungarn die 7,5 Milliarden Euro an europäischen Geldern vorzuenthalten.
„Polen wird sich jedem Schritt der europäischen Institutionen widersetzen, der darauf abzielt, einem Mitgliedsland, in diesem Fall Ungarn, auf absolut unzulässige Weise Gelder zu entziehen“, erklärte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki vor der Presse.
Der Chef der polnischen nationalistisch-populistischen Regierung, der mit Brüssel ebenfalls wegen der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit im Konflikt steht, erinnerte daran, dass sein ungarischer Amtskollege und Verbündeter Viktor Orban bereits „einen Plan zur Einigung mit der Europäischen Kommission“ vorbereitet habe.
Ungarns Rolle im italienischen Wahlkampf
Für die italienische Rechtspopulistin Giorgia Meloni, die bei den Parlamentswahlen in Italien am 25. September als Siegerin gehandelt wird, stellt sich die Frage der Souveränität, und früher oder später würde man sich damit befassen müssen. „Europäische Entscheidungsgremien sind Regierungsgremien“, erklärte sie am 18. September. „Wir sagen, dass die Souveränität dem Volk gehört und sich in parlamentarischen Entscheidungen manifestiert. Es ist eine Debatte, die wir höflich führen müssen, und das bedeutet nicht, die EU zu verlassen, sondern Korrekturen vorzunehmen.“
Meloni stellte weiter klar: „Orban wird seine Entscheidungen treffen, aber ich tue nicht, was Orban sagt, ich schaue nur auf das nationale Interesse Italiens.“ Allerdings „bin ich nicht damit einverstanden, was die EU mit Ungarn macht. Wir befinden uns mitten in einem Krieg, der gegen den Westen geführt wird, und wir haben kein Interesse daran, Europa zu spalten, sondern Europa gegen die Gegner zu verdichten. Ungarn hat in der UNO nicht mit Russland, sondern mit Europa gestimmt. Und Polen steht an vorderster Front in der Auseinandersetzung mit Russland und nimmt Flüchtlinge aus der Ukraine auf.“
Meloni tritt im Wahlkampf als Teil einer Mitte-Rechts-Allianz an, zu der auch die rechte Lega von Matteo Salvini und die konservative Forza Italia von Silvio Berlusconi gehören. Die letzten Umfragen, die vor der Wahlsperre veröffentlicht wurden, sahen das Bündnis mit 46 Prozent der Stimmen weit vor seinen Konkurrenten.
Der Vorsitzende der Demokratischen Partei (Partito Democratico/PD) Enrico Letta betonte am 18. September seine Distanz zum Mitte-Rechts-Bündnis. „Wir wollen kein Italien, das sich an Ungarn bindet, wie es Salvini heute vorgeschlagen hat zu tun“, erklärte er weiter. „Wir wollen kein Italien, das Orban und Putin zuzwinkert, wir wollen ein Italien, das im Herzen Europas liegt und seinen Bündnissen treu bleibt.“
Slowakei und Kroatien bevorzugen Einigung
Die Europäische Kommission handelt so, wie es die EU-Mitgliedstaaten bei der Genehmigung des EU-Haushalts für sieben Jahre vereinbart haben, erklärte der slowakische Premierminister Eduard Heger in Bezug auf den Kommissionsvorschlag. Heger wies darauf hin, dass bei der Verabschiedung des EU-Haushalts die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit beschlossen wurde, um den Missbrauch von EU-Geldern in den Mitgliedstaaten zu bekämpfen. „Das ist, nach allem, eine langfristige Priorität meiner Regierung. Die Slowakei weiß aus eigener Erfahrung aus früheren Regierungszeiten sehr gut, was es bedeutet, wenn EU-Gelder gestohlen werden“, sagte er.
Er wies auch darauf hin, dass es derzeit eine sehr intensive Kommunikation zwischen Ungarn und der Kommission über die Maßnahmen gibt, die Ungarn bereit sei, zu ergreifen, um die Strukturen zum Schutz der EU-Gelder zu stärken, sodass eine Aussetzung der EU-Mittel nicht notwendig werde. „Natürlich ist dies das bevorzugte Szenario“, erklärte Heger.
Ihm zufolge kann gegen den Vorschlag kein Veto eingelegt werden. Der slowakische Ministerpräsident erinnerte daran, dass über die endgültige Version des Vorschlags von einer qualifizierten Mehrheit der Länder nach Ablauf der monatlichen Frist entschieden wird. Die Slowakei sei bereit, die Verlängerung um weitere zwei Monate zu unterstützen, um Ungarn mehr Zeit für Verhandlungen zu geben, sagte Heger.
„Kroatien unterstützt alle Mechanismen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, einschließlich des Mechanismus der Konditionalität“, sagte Andreja Metelko Zgombić, die kroatische Staatssekretärin für Europa, in Brüssel, wo sie am 20. September an einer Sitzung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten teilnahm.
Budapest könnte Sanktionen vermeiden, wenn es die Gründe, die zu diesem Vorschlag geführt haben, rechtzeitig beseitigt. „Wir waren froh zu hören, dass sich die Kommission und Ungarn auf einen Zeitrahmen geeinigt haben, um diese Angelegenheit zu klären, die höchstens zwei Monate dauern kann, und dass es Raum für eine Einigung gibt. Wir würden gerne sehen, dass diese Präventivmechanismen funktionieren und ihren Zweck erfüllen“, sagte Metelko Zgombić.
Rumänischer Präsident Iohannis: „Jede drastische Maßnahme muss gut diskutiert und begründet werden“
In Bezug auf den Vorschlag ist Rumänien „der Ansicht, dass jede drastische Maßnahme gut diskutiert und begründet werden muss“, sagte der rumänische Präsident Klaus Iohannis am 20. September.
„Meine Hoffnung (…) ist nach wie vor, dass Kommunikationskanäle zwischen Brüssel und Budapest und Lösungen für diese Probleme gefunden werden, denn sonst verstärken sich die Fronten, die Meinungsverschiedenheiten nehmen zu, und ich glaube nicht, dass irgendjemand will, dass innerhalb der Europäischen Union neue Krisen entstehen, die einfach nichts Gutes bringen können. Ich hoffe, dass wir auch bei diesem Thema den Weg des Dialogs weitergehen“, sagte Iohannis in New York.
Österreich will keine Kompromisse bei der Rechtsstaatlichkeit
Die österreichische Europaministerin Karoline Edtstadler (Österreichische Volkspartei/ÖVP) hat sich nach dem EU-Kommissionsvorschlag abwartend gezeigt. Budapest habe bereits Reformschritte und einen Plan vorgelegt, sagte Edtstadler am 20. September vor dem Treffen mit ihren EU-Amtskollegen in Brüssel. Nun gehe es darum, wie die tschechische Ratspräsidentschaft mit der Idee der EU-Kommission umgehe. „Wichtig ist mir, dass es keine Abstriche bei der Rechtsstaatlichkeit geben darf“, betonte Edtstadler weiter. Es gebe ein „klares Prozedere“, so die ÖVP-Ministerin, „man sollte auch jedem die Chance geben, in diesem Prozedere seine Vorstellungen und Ideen darzulegen und auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren“. Im Rahmen der Sitzung am 19. September werde sie auch mit der ungarischen Justizministerin Judit Varga Gespräche führen.
Was sagt Ungarn?
„Der Sommer war sehr konstruktiv und lösungsorientiert, und deshalb hat Ungarn 17 Maßnahmen vorgeschlagen, die alle Bedenken im Rahmen des Konditionalitätsverfahrens ausräumen können, und dies wurde am Sonntag auch von der Europäischen Kommission anerkannt“, sagte die ungarische Justizministerin Judit Varga am 20. September in Brüssel. „Ungarn hat sich nun voll und ganz verpflichtet, diese Maßnahmen umzusetzen“, fügte sie auf der Sitzung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten in Brüssel hinzu.
Varga sagte, dass Ungarn bis Mitte November Zeit haben sollte, da das Land „neue Institutionen einrichten muss, für die man neues Personal einstellen muss“, und verwies auf notwendige Rechtsvorschriften. Sie sagte auch, dass sie die anderen Mitgliedsstaaten bitten werde, tolerant, positiv und konstruktiv zu sein.
Die 17 ungarischen Vorschläge konzentrieren sich hauptsächlich auf die Kontrolle von Ausschreibungen und die Verwendung von EU-Geldern, einschließlich der Schaffung einer unabhängigen Behörde, welche die Anwendung der Regeln für die Verwendung von EU-Geldern überwachen würde.
Außerdem soll der Anteil der Ausschreibungen mit nur einem Bieter verringert werden, und die Regierung verspricht, die Teilnahme von kleinen und mittleren Unternehmen an Ausschreibungen zu erleichtern sowie enger mit dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) zusammenzuarbeiten.
Am 20. September wurde den ungarischen Gesetzgebern ein Gesetzesvorschlag vorgelegt, der einige der von der EU erhobenen Korruptionsvorwürfe aufgreifen sollte.
Die vorgeschlagene Maßnahme würde die Aktivitäten von Politikern, die in Stiftungsräten sitzen, kontrollieren und ungarische Beamte zu einer engeren Zusammenarbeit mit OLAF verpflichten.
Die neuen Vorschläge wurden erstmals spät am 19. September auf der Website des ungarischen Parlaments angekündigt. Die Regierung von Premierminister Viktor Orban hat angekündigt, einen weiteren Gesetzesvorschlag am 23. September vorzulegen.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.