Die EU will den Schutz ihrer Grenzen zu Russland verstärken. Polen hatte kurz zuvor nach eigenen Angaben mindestens drei in den polnischen Luftraum eingedrungene russische Drohnen zerstört. Dies löste Befürchtungen über eine Eskalation des Krieges in der Ukraine aus.
„Und ohne jeden Zweifel kann man sagen: Die Länder im europäischen Osten schützen ganz Europa,“ sagte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in einer Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am Mittwoch. „Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Deshalb müssen wir investieren, um diese Länder mit einer ‘Eastern Flank Watch’ zu unterstützen.“
Das Konzept befindet sich noch in einem frühen Stadium, offizielle Details wurden noch nicht veröffentlicht. Von der Leyen beschrieb die “Eastern Flank Watch” als ein Programm, das jene EU-Länder besser schützen soll, die an Russland grenzen. Geplant sind demnach Investitionen in Echtzeit-Weltraumüberwachung und “eine Mauer aus Drohnen“.
Sie kündigte außerdem eine sogenannte Drohnen-Allianz mit der Ukraine an und verurteilte Russland für eine „rücksichtslose und beispiellose Verletzung des polnischen und europäischen Luftraums“.
Was geschah in Polen?
Der Termin für Von der Leyens „State of the Union“-Rede war lange im Voraus geplant, doch nur wenige Stunden zuvor drangen russische Drohnen in den Luftraum Polens ein. Laut dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk wurde der Luftraum Polens am Mittwoch 19 Mal verletzt. Polen schoss mit von Warschau und seinen Alliierten entsandten Kampfjets mindestens drei der Drohnen ab. Es wurden keine Opfer gemeldet.
Russische Drohnen und Raketen sind während der dreieinhalbjährigen Invasion der Ukraine bereits mehrfach den Luftraum von NATO-Mitgliedern eingedrungen, darunter Polen. Allerdings hatte bisher kein NATO-Land mit Abschussversuchen reagiert.
Tusk berief sich auf Artikel 4 der NATO, der es jedem Mitglied erlaubt, dringende Gespräche einzuberufen, wenn es seine „territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ gefährdet sieht. Es war erst das achte Mal seit der Gründung der Organisation im Jahr 1949, dass ein Mitglied diesen Schritt gemacht hat.
„Diese Situation (…) bringt uns einem offenen Konflikt näher als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg,” sagte Tusk vor dem polnischen Parlament, fügte jedoch hinzu, dass es „heute keinen Grund gibt, zu behaupten, dass wir uns im Kriegszustand befinden“.
Russland hat jede Verantwortung für die Verletzung des polnischen Luftraums zurückgewiesen. Das Verteidigungsministerium erklärte auf Telegram: „Es gab keine Pläne, die Infrastruktur in Polen anzugreifen.“
Wie hat Europa reagiert?
Europas Spitzenpolitikerinnen und -politiker haben sich nach dem Vorfall hinter Polen gestellt.
Der italienische Präsident Sergio Mattarella sagte: „Der Drohnenvorfall in Polen ist äußerst ernst. Besorgniserregend ist, dass wir uns auf einem Grat bewegen, von dem wir in einen Abgrund unkontrollierter Gewalt abrutschen könnten.“ Er verglich die aktuelle Atmosphäre mit der Stimmung, die zum Ersten Weltkrieg führte.
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bekundete „volle Solidarität mit Polen angesichts der schwerwiegenden und inakzeptablen Verletzung des polnischen und NATO-Luftraums durch Russland“.
Andere sehen die Gefahr einer Schwächung der NATO in ihrer Rolle. Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala verurteilte Russland und kritisierte Politikerinnen und Politiker, die das Militärbündnis als Aggressor bezeichneten oder sich gegen eine Stärkung der Verteidigung aussprachen. „Das ist keine politische Position, sondern ein Dienst an der russischen Propaganda, die wir in Tschechien nicht gewinnen lassen dürfen“, sagte er und forderte alle politischen Kräfte auf, den Angriff klar zu verurteilen.
Der spanische Außenminister José Manuel Albares schlug einen vorsichtigeren Ton an. Er sagte, die „offensichtliche“ Verletzung des polnischen Luftraums durch russische Drohnen sei ein Moment, der „notwendige Entschlossenheit“ erfordere. Man dürfe jedoch nicht übereilt handeln.
Albares forderte Europa und die NATO auf, geeint zu bleiben, und fügte hinzu, Spanien wolle Frieden und arbeite einem bedingungslosen Waffenstillstand, stehe aber auch „für Sicherheit, insbesondere die Europas und der Europäerinnen und Europäer“.
Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz äußerte sich direkter und beschuldigte Russland, „Menschenleben in einem Land, das Teil der NATO und der EU ist, gefährdet zu haben“, während Verteidigungsminister Boris Pistorius den Vorfall als „Provokation gegen die gesamte NATO“ bezeichnete.
Der französische Präsident Emmanuel Macron nannte den Vorfall „schlicht inakzeptabel“, während selbst Ungarns Viktor Orbán – ein Unterstützer von Russlands Präsident Wladimir Putin – sein Land in „voller Solidarität“ mit Polen erklärte, ohne Moskau zu verurteilen.
Der slowakische Ministerpräsident und Russland-Verbündete Robert Fico verurteilte Russland ebenfalls nicht und schrieb in einem Beitrag auf X, dass es sich um „einen ernsten Vorfall handelt, der weitreichende Konsequenzen haben kann“. Und: „Es ist daher von entscheidender Bedeutung, objektiv festzustellen, ob es sich um eine absichtliche oder versehentliche Handlung handelte und unter wessen Kontrolle die Drohnen betrieben wurden. Ich bekunde Solidarität mit Polen und biete Zusammenarbeit an, um alle notwendigen Antworten zu finden.“
Der ehemalige slowakische Verteidigungsminister Jaroslav Naď warf seiner Regierung Untätigkeit vor und sagte, der Nationale Sicherheitsrat „hätte schon längst einberufen werden müssen“.
Bulgarien und Slowenien äußerten sich weitaus deutlicher. Das bulgarische Außenministerium erklärte „volle Solidarität mit unserem Verbündeten Polen“. In der Erklärung hieß es weiter: „Russlands wiederholte Verletzungen des NATO-Luftraums sind eine Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit. Solche Handlungen werden mit entschlossenen Maßnahmen zum Schutz des Bündnisses beantwortet.“
Der slowenische Ministerpräsident Robert Golob bezeichnete die Verletzung des polnischen Luftraums durch Russland ebenfalls als „völlig inakzeptabel“, wie er in einem Beitrag auf dem X-Profil der Regierung erklärte. „Donald Tusk hat meine volle Solidarität.“
Der rumänische Präsident Nicusor Dan sagte, sein Land stehe solidarisch an der Seite Polens und es seien, falls nötig, Verfahren vorhanden, um „in ähnlicher Weise zu reagieren“, falls sich in Rumänien ein vergleichbarer Vorfall ereignen sollte.
Wie geht es weiter?
Lettland hat seinen Luftraum an der Grenze zu Russland und Belarus für eine Woche geschlossen.
Der lettische Verteidigungsminister Andris Sprūds beruhigte die Bevölkerung und erklärte, dass derzeit keine direkte Bedrohung bestehe, jedoch seien präventive Maßnahmen notwendig.
Die Schließung des Luftraums erleichtert es, unbefugte Flugobjekte zu erkennen.
Auch Polen verhängte Beschränkungen für den Luftverkehr entlang seiner östlichen Grenze, wie die Nachrichtenagentur PAP am Donnerstag unter Berufung auf einen Sprecher der Luftfahrtbehörde berichtete.
Er sagte, dass die Beschränkungen bis zum 9. Dezember entlang der Grenze zu Belarus und zur Ukraine in Kraft bleiben und Höhen von Bodenniveau bis zu 3.000 Metern abdecken.
Alle Luftfahrzeuge sind in dieser Zone von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang verboten, mit Ausnahme von autorisierten Militärflugzeugen. Das Land beantragte außerdem eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats.
Einige Analystinnen und Analysten sehen die Luftraumverletzungen mit Drohnen als bewussten Test. Der deutsche Außenpolitikexperte Norbert Röttgen argumentierte, Russland prüfe die Entschlossenheit der NATO und versuche, das Bündnis wegen seiner Unterstützung für die Ukraine einzuschüchtern. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas gab eine ähnliche Einschätzung ab und bezeichnete den Vorfall als „Game Changer“, der die EU zu härteren Maßnahmen im nächsten Sanktionspaket bewegen müsste.
Das 19. Sanktionspaket der EU gegen Russland soll noch in diesem Monat kommen. Von der Leyen nannte die folgenden Schwerpunkte:
- den Ausstieg aus russischen fossilen Brennstoffen beschleunigen
- „Schattenflotte“, die Moskau hilft, Ölsanktionen zu umgehen, ins Visier nehmen
- Drittstaaten drängen, die Einhaltung der Sanktionen zu verschärfen
Zudem soll es möglich werden, eingefrorene russische Vermögenswerte zu nutzen, um die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu finanzieren.
Auch die neu angekündigte Drohnenallianz soll dazu beitragen, russischen Bedrohungen entgegenzuwirken, doch bisher wurden nur wenige Details veröffentlicht.
Ein Sprecher der Kommission sagte, dass konkrete Schritte später folgen werden. Die Allianz ziele darauf ab, „dass die Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten, europäischen Industrieakteuren und der Ukraine im Drohnensektor enger zusammenarbeitet, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen“.
Unterdessen erhöhen europäische Länder weiterhin ihre Verteidigungsausgaben. Angesichts der Bedrohung durch Russland und des Drucks von US-Präsident Donald Trump einigten sich die europäischen Mitglieder der NATO darauf, ihre Verteidigungsausgaben massiv zu steigern.
Die Zuweisungen im Rahmen eines neuen EU-Darlehensprogramms, das dieses Ziel unterstützen soll, wurden am Dienstag bekannt gegeben.
Warschau führte die Liste an und sicherte sich Darlehen in Höhe von fast 44 Milliarden Euro aus dem 150-Milliarden-Euro-Programm, das den Mitgliedstaaten helfen soll, Geld zu günstigeren Konditionen zu leihen.
Es folgten Rumänien mit 16,7 Milliarden Euro, Frankreich und Ungarn mit jeweils 16,2 Milliarden Euro sowie Italien mit 15 Milliarden Euro, wie vorläufige Zahlen zeigen.
Die Mittel sollen in die Stärkung zentraler Bereiche wie der Luftverteidigung fließen und könnten auch dazu verwendet werden, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.
Dieser Artikel ist eine Key Story des enr. Der Inhalt basiert auf der Berichterstattung der teilnehmenden Nachrichtenagenturen.
