Die EU sieht sich derzeit mit einer hohen Anzahl von einreisenden Migranten und Migrantinnen konfrontiert. Im vergangenen Jahr sei mit 330.000 irregulären Einreisen ein „steiler Anstieg“ zu verzeichnen gewesen, sagte die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson am Dienstag den enr-Korrespondentinnen und Korrespondenten in einem Interview. Die Einreisenden stammten aus Ländern wie etwa der Türkei, Indien, Kuba, Ägypten und Marokko
Im gleichen Zeitraum hätten fast eine Million Menschen einen Asylantrag in der EU gestellt. Laut Johansson gerieten dadurch einige Mitgliedsstaaten unter Druck, etwa Belgien und die Niederlande.
Beim Sondergipfel in der kommenden Woche werden die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammenkommen, um über einige der offenen Fragen rund um die Migration in die EU zu debattieren. Dabei gibt es einige Konflikt-Punkte, die wahrscheinlich eine Rolle spielen werden.
Aus EU-Mitteln finanzierte Grenzzäune?
Einer dieser Diskussionspunkte dürfte vermutlich die Finanzierung von Grenzzäunen aus dem EU-Budget sein. Die EU finanziere zwar auch Grenzschutzmaßnahmen, aber „Mauern und Stacheldraht um die Europäische Union zu bauen ist aus vielen Gründen keine gute Lösung“, erklärte Johansson in dem Interview.
„Wir haben den langjährigen Grundsatz, keine Mauern und Stacheldrähte zu finanzieren. Und ich denke, das sollte nicht geändert werden. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass wir einen pragmatischen Ansatz haben sollten. Natürlich stammt der Großteil der Finanzierung für den Grenzschutz aus den nationalen Haushalten, und wir sollten uns darauf konzentrieren, EU-Gelder bestmöglich einzusetzen“, ergänzte Johansson.
Gleichzeitig schloss die Kommissarin nicht aus, dass „physische Infrastruktur“ an den Außengrenzen aus dem EU-Haushalt finanziert werden könnte. Dabei könnte es sich beispielsweise um Technologie zur Grenzüberwachung handeln.
Im Herbst 2021 hatten bereits mehr als zehn EU-Mitgliedstaaten von der Kommission gefordert, physische Grenzbarrieren zumindest teilweise aus dem gemeinsamen Haushalt zu bezahlen. Schon damals lehnte die Brüsseler Behörde dies strikt ab. Zuletzt forderte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer von der Kommission 2 Milliarden Euro für den Ausbau des Grenzzauns zwischen Bulgarien und der Türkei.
Schengen und Binnengrenzkontrollen
Obwohl im Schengen-Raum grundsätzlich Reisefreiheit herrscht, werden derzeit Grenzkontrollen zwischen Mitgliedsstaaten durchgeführt, etwa an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien.
„Wir müssen die Binnengrenzkontrollen beenden“, sagte Johansson dazu. Die EU-Kommission suche gemeinsam mit den betroffenen Mitgliedstaaten und ihren Nachbarn nach Wegen, um irreguläre Einreisen zu verhindern und die Länder ohne Kontrollen an den Binnengrenzen vor Sicherheitsrisiken zu schützen. Anlässlich eines Treffens mit seinem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte am 26. Januar in Wien hatte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer erklärt, dass die aktuell bestehenden Grenzkontrollen zwischen Deutschland, Österreich, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien zeigten, dass das Schengen-System der offenen Grenzen zum Scheitern verurteilt sei.
Durchsetzung der Dublin-Regeln und Schengen
Im Interview mit den enr-Korrespondenten unterstrich Johansson die Bedeutung eines gut funktionierenden Schengen-Raums, einschließlich der effektiven Registrierung aller Personen, die in die EU einreisen.
„Ich bin besorgt über die Situation, wenn beispielsweise in Österreich 75% der irregulär einreisenden Personen nicht registriert wurden, bevor sie in Österreich auftauchen. In den Niederlanden sind es 90% der irregulär Einreisenden, die dort auftauchen, ohne zuvor registriert worden zu sein“, sagte die Kommissarin.
Die sogenannten Dublin-Regeln der EU sehen vor, dass Migranten und Migrantinnen in das Land zurückgeführt werden, über das sie zuerst in die EU eingereist sind, und dass in diesem Land auch ihr Asylantrag bearbeitet wird. Aufgrund der hohen Anzahl von Migranten, die über das Mittelmeer in die EU einreisen, setzen die Dublin-Regeln Griechenland, Italien, Spanien und Malta stark unter Druck.
Seit Jahren werfen daher die südlichen EU-Länder den anderen Mitgliedstaaten einen Mangel an Solidarität vor, da viele von ihnen es verweigern würden, einen festen Anteil an den mehreren Zehntausend Migranten aufzunehmen, die jedes Jahr die EU erreichen.
Bei dem Treffen in Wien am 26. Januar forderte der niederländische Premierminister Mark Rutte, dass die Registrierung von Migranten an den EU-Außengrenzen gemäß der Dublin-Regeln wiederaufgenommen werden sollte, und zwar so lückenlos wie möglich.
Zugang zum Schengen-Raum
Am Dienstag bestätigte Johansson, dass Rumänien und Bulgarien alle Kriterien erfüllen, um dem Schengen-Raum beizutreten. Eine Entscheidung über den Beitritt von Rumänien und Bulgarien zum Schengen-Raum könne aus ihrer Sicht „ziemlich bald“ getroffen werden.
Österreich hatte Ende 2022 aufgrund der irregulären Migration über deren EU-Außengrenzen ein Veto gegen die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum eingelegt.
Neues Migrations- und Asylpaket
Während des Interviews am Dienstag äußerte Kommissarin Johansson es gebe „gute Fortschritte“ im Hinblick auf das Gesetzespaket. Johansson zeigte sich zuversichtlich, dass über sämtliche Aspekte des Pakets noch „während des aktuellen Mandats entschieden“ werde. Die Amtszeit der aktuellen EU-Kommission endet voraussichtlich 2024. Die Kommissarin warnte bei dieser Gelegenheit jedoch auch, dass „es noch einige Jahre dauern wird, bevor alles implementiert ist“.
Im September 2020 hatte die EU-Kommission ein so genanntes „neues Migrations- und Asylpaket“ vorgeschlagen, nachdem in 2015/2016 deutlich geworden war, dass das geltende System und die verpflichtende Verteilung der Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten nicht funktionierte.
Ein anderer wesentlicher Punkt der Debatte ist die Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht. Die EU-Innenminister hatten bereits in der vergangenen Woche über dieses Thema diskutiert, und diese Debatte dürfte beim anstehenden Gipfel fortgesetzt werden.
Am 26. Januar hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder einen Brief geschrieben, in dem sie ihre Vorschläge für kurzfristige Erfolge in der Migrationspolitik unterbreitete. Unter anderem betonte sie dabei den Schutz der Außengrenzen, schnellere Rückführungen und eine lückenlose Registrierung von Migranten, die die EU erreichen.
Dieser Artikel wird freitags veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf Nachrichten der teilnehmenden Agenturen im enr.