Europäische Politiker wie jüngst der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck haben der Ukraine westliche Unterstützung beim Wiederaufbau nach dem russischen Angriff auf das Land versprochen. Auch auf der anderen Seite der Frontlinie ist man nicht untätig: Seit die russische Armee die ukrainische Stadt Mariupol im Mai 2022 zerstört und erobert hat, wird häufig erzählt, Russland baue die Ukraine wieder auf – teilweise angeblich besser als zuvor. Als Beispiel werden Videoaufnahmen von neuerrichteten Wohnvierteln in Mariupol präsentiert. Entstehen dort – wie die sprichwörtlichen Potemkinschen Dörfer zur Zarenzeit – nun Putinsche Dörfer?

Bewertung

Die russische Invasion richtet in der Ukraine vor allem große Zerstörung an – und die meisten überlebenden Bewohner von Mariupol haben wenig vom zur Schau gestellten Wiederaufbau der Stadt. Dieser steht auch in keinem Verhältnis zur großflächigen Vernichtung, die Russlands Armee dort hinterlassen hat.

Fakten

Im Video werden mehrere neugebaute Gebäudekomplexe präsentiert, die Russlands Aufbauarbeiten in Mariupol belegen sollen. Ab 03:32 wird im Clip der «Newskij»-Wohnkomplex gezeigt, der häufig in russischen Medien präsentiert wird und den Wladimir Putin im März 2023 persönlich besuchte.

Viel Fassade: Qualität der Neubauten wird kritisiert

Von außen sieht der Wohnkomplex «Newskij» eindrucksvoll aus – die Innenausstattung scheint jedoch von geringer Qualität zu sein. In einem Youtube-Video wird der Innenbau eines Appartements gezeigt. Alle Fliesen im Bad und WC etwa sind aus Kunststoff. Die Fugen zwischen den Wandpaneelen in den restlichen Räumen scheinen ebenfalls aus Plastik zu sein.

Andere Neubauten, die im Video auftauchen – darunter der grün-gelbe Wohnkomplex in der Kaffayskaya-Straße (ab 02:57) oder der pink-weiße Wohnkomplex in der Uriz’kogo-Straße (ab 03:14) – sind von Baumängeln betroffen. Weitere Youtube-Videos (hier oder hier) zeigen Kunststofftüren, fehlende Kücheneinrichtungen oder nicht funktionierende Aufzüge.

Bürokratische Hürden verzögern Zuteilung

In einer weiteren Behauptung (bei etwa 02:41) heißt es, dass die Stadtbevölkerung kostenlos eine Eigentumswohnung bekommen könne. Doch selbst russische Medien schreiben, dass das eher Theorie als Praxis sei: Um eine neue Wohnung anstelle eines vom Beschuss zerstörten Hauses zugewiesen zu bekommen, muss man viele Dokumente vorlegen – darunter auch eine Eigentumsbescheinigung über Immobilienbesitz. Die Regierung der nicht anerkannten «Donezker Volksrepublik» hat jedoch alle Dokumente über Immobilienbesitz, die seit 2014 in der Ukraine ausgestellt wurden, im Juli 2022 für ungültig erklärt.

In diversen Videointerviews (etwa hier und hier) geben die Einwohnerinnen der neuen Wohnkomplexe an, dass ihnen Wohnungen als Ersatz für ihre niedergebrannten und abgerissenen eigenen Häuser angeboten wurden. Ihre Wartezeit betrug dabei häufig ein halbes Jahr oder mehr. Auch wurde nicht allen die versprochene «Einzugsprämie» von 100 000 Rubel (etwa 1150 Euro) ausgezahlt, so dass «viele kein Geld für die nötigen Möbel haben».

Einige Stadtbewohner «sehen sich daher gezwungen, die Stadt zu verlassen. (…) Und hastig errichtete Neubauten stehen meist leer», heißt es in einem russischen Artikel. Ein anschauliches Beispiel ist der neu errichtete Wohnkomplex «Tscheremushky» in der Irtyshskaya-Straße, der mit seinem grau-weiß-orangenen Anstrich auch prominent ab 02:21 im Video auftaucht. Ebenso wie die anderen Neubaukomplexe im Video sieht er verdächtig leer aus. Russische Medien in Mariupol berichteten im November 2022, dass der besagte Wohnkomplex mit über 830 Wohnungen bei der feierlichen Fertigstellung nur von 15 Familien bezogen wurde.

Das steht im krassen Widerspruch zu Aussagen des russischen Vize-Premiers (er ist seit 2022 auch «Kurator für den Wiederaufbau» besetzter Gebiete) Marat Khusnullin, der versprach «Wohnungen für 15 000 Stadtbewohner bis Ende 2022 zur Verfügung zu stellen». Die ukrainische Stadtverwaltung im Exil und ukrainische Journalisten haben jedoch Ende 2022 auf die desolate Lage der Lokalbevölkerung hingewiesen, die überwiegend keinen dauerhaften Zugang zu Gas, Wasser oder elektrischem Strom hat.

Russische Soldaten ziehen in Neubauten ein

Mehrere Quellen geben an, dass bei der Besiedelung der Neubauten die Besatzungskräfte bevorzugt werden. «Das Besatzungskorps ist dort. Das sind mehrere tausend Soldaten. (…). Einige Soldaten kamen mit Frauen und Kindern. Sie brauchen auch eine Unterkunft», so Vertreter lokaler ukrainischer Medien.

Ein Abgeordneter des ukrainischen Stadtrats von Mariupol wies darauf hin, dass in erster Linie russische Vertreter der Sicherheitsstrukturen, aus Russland angereiste Ärzte, Lehrer und deren Familien in die neuen Wohnkomplexe einziehen. Auch die ukrainische Stadtverwaltung spricht davon, dass «all diese schönen Gebäude nicht für diejenigen, die ihr Obdach verloren haben, (bestimmt) sind.»

Firma des Militärs ist für die Neubauten zuständig

Auf eine Bevorzugung des russischen Militärs beim Einzug in die neuen Wohnblöcke weist auch die Tatsache hin, dass die Militärbaugesellschaft VSK mit dem Wiederaufbau beauftragt wurde. Das Unternehmen ist dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt und auf den Bau militärischer Anlagen spezialisiert. Die VSK-Website berichtet über den Bau der geplanten Wohnanlageneiner Schule und eines medizinischen Zentrums in der Stadt.

Der Hauptbeauftragte für den Wiederaufbau Mariupols ist der stellvertretende Verteidigungsminister Timur Ivanov, gegen den mehrere internationale Sanktionen verhängt worden sind. Ein VSK-Video zeigt Ivanov (zusammen mit dem selbsternannten Separatisten-Führer der sogenannten «Donezker Volksrepublik», Denis Puschilin (gegen den ebenfalls internationale Sanktionen verhängt wurden), bei der Bauabnahme des obengenannten «Newskij»-Wohnkomplexes in Mariupol im September 2022.

Untersuchungen sprechen von Korruption bei Bauvorhaben

Eine Untersuchung der russischen Opposition um Alexey Navalny kam zu dem Ergebnis, dass es bei den Bauvorhaben in Mariupol Korruption gebe: Der stellvertretende Verteidigungsminister Ivanov und andere sollen bis Dezember 2022 rund 200 Millionen Euro daran verdient haben. Auch andere Investigativmedien haben Korruptionsschemata des russischen Verteidigungsministeriums im Rahmen des Wiederaufbaus von Mariupol aufgedeckt.

Umfang der Zerstörung übersteigt Wiederaufbau bei weitem

Der Umfang des im Video angesprochenen russischen Aufbaus steht in keinem Verhältnis zu der enormen Zerstörung Mariupols durch die russische Armee im Jahr 2022. Nach Angaben der ukrainischen Stadtverwaltung im Dezember 2022 wurden durch den russischen Beschuss 90 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes beschädigt.

Auch Orte russischer Kriegsverbrechen sind von russischen Baumaßnahmen betroffen, womit mögliche Beweise vernichtet wurden. So ist das Stadttheater abgerissen worden, in dem beim russischen Raketenangriff am 16. März 2022 Hunderte von Menschen starben, darunter viele Kinder.

Einst lebten 425 000 Menschen in Mariupol

Vor der russischen Invasion lebten mehr als 425 000 Menschen in Mariupol. Die ukrainische Stadtverwaltung schätzt die Zahl der Toten in der Stadt auf mindestens 25 000. Nach Einschätzungen von Journalisten der Associated Press könnten sogar bis zu dreimal so viele Menschen gestorben sein.

Im Juli 2022 berichteten russische Medien, dass die Militärbaugesellschaft VSK bis Ende des Jahres zwölf fünfstöckige Gebäude mit 1011 Wohnungen für mehr als 2500 Personen bauen wollte. Als Reaktion darauf wies Petro Andryushchenko, Berater des ukrainischen Bürgermeisters von Mariupol, darauf hin, dass das von Russland angekündigte «große Bauunterfangen» nur für zwei Prozent aller Stadtbewohner, die Wohnraum benötigten, ausreichen werde. Zugleich haben russische Bauteams nach Angaben von Andryushchenko Ende Dezember 2022 bereits «50 Mehretagenhäuser mit mindestens 2500 Wohnungen demontiert».

Selbst das Facebook-Video, das den erfolgreichen Wiederaufbau der zerstörten Stadt belegen soll, zeigt zunächst einen etwa halbminütigen Ausschnitt eines Beitrags der «Bild», der die Ruinen von Mariupol nach dem russischen Einmarsch präsentiert. Auch im weiterem Verlauf sind Aufnahmen aus dem heutigen Mariupol zu sehen, die im Hintergrund große Kriegsschäden zeigen: etwa mehrere halbausgebrannte Wohnblöcke (ab 02:00 und 02:18). Das Ausmaß der Zerstörung im Verhältnis zum Umfang des Wiederaufbaus wird im Video nicht eingeordnet.

Links

Wladimir Putin in Mariupol, BBC, März 2023

Robert Habeck zu Investitionen (archiviert)

Potemkinsche Dörfer (archiviert)

Youtube-Video zur Inneneinrichtung der russischen Neubauten (archiviert)

Youtube-Begehung des Kaffayskaya-Komplexes und des Uriz’kogo-Komplexes (archiviert Iarchiviert II)

Russische Medienberichte zur Wohnungslage in Mariupol (archiviert)

Ukrainische Reportage zu Antragsbedingungen bei der Wohnungsvergabe (archiviert)

«Donezker Volksrepublik» erklärt ukrainische Immobilienbesitzurkunden für ungültig, Juli 2022 (archiviert)

Videointerviews mit Bewohnern der Neubauten I und II(archiviert Iarchiviert II)

Russische Medien zum Einzug in den «Tscheremushky»-Wohnkomplex (archiviert)

Versprechen des russischen Vize-Premiers zur Bereitstellung von Wohnungen für die Stadtbevölkerung, September 2022 (archiviert)

Ukrainische Stadtverwaltung von Mariupol zur Lage der Stadtbevölkerung, Dezember 2022 (archiviert)

Ukrainische Journalisten zur Lage der Stadtbevölkerung, November 2022 (archiviert)

Leiter des lokalen ukrainischen Senders «Mariupol TV» zur Wohnungsvergabe an Militärs (archiviert)

Abgeordneter des Mariupoler Stadtrats zur Bevorzugung von Russen bei der Wohnungsvergabe (archiviert)

Ukrainische Stadtverwaltung von Mariupol zur Vergabe von Wohnungen, Oktober 2022 (archiviert)

Bauprojekte der Militärbausgesellschaft VSK in Mariupol – WohnkomplexSchule, Ärztezentrum (archivierte Websitearchiviertes Wohnprojektarchiviertes Schulprojektarchiviertes Ärztezentrumsprojekt)

Angaben der ukrainischen Stadtverwaltung zu den Außmaßen der Zerstörung Mariupols (archiviert)

Interfax über die Ankündigung des russischen Verteidigungsministeriums Wohnhäuser in Mariupol zu bauen, Juli 2022 (archiviert)

Petro Andryushchenko zum „großen Bauunterfangen“ Russlands, Juni 2022 (archiviert)

Petro Andryushchenko zum Abriss von Gebäuden, Dezember 2022 (archiviert)

Internationale Sanktionen gegen Timur Ivanov (archiviert)

VSK-Video zu Ivanovs Bauabnahme in Mariupol, September 2022

Internationale Sanktionen gegen Denis Pushilin (archiviert)

Korruptions-Untersuchung des Navalny-Teams zu Timur Ivanov, Dezember 2022

Weitere Korruptionsuntersuchung beim Wideraufbau Mariupols, August 2022 (archiviert)

Russischer Angriff auf das Mariupoler Theater, März 2022 (archiviert)

Angaben des ukrainischen Finanzministerium zur Bevölkerung Mariupols am 1.1.22 (archiviert)

AP-Schätzungen der Toten von Mariupol (archiviert)

Facebook-Post mit Behauptung (archivierter Postarchiviertes Video)

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