Der Gesundheitssektor in Europa ächzt unter der Last des Alters – der Patientinnen und Patienten und der Arbeitskräfte. Der Fachkräftemangel – Teil eines größeren Trends in vielen Wirtschaftssektoren – trifft die Gesundheitsversorgung besonders hart. Gleichzeitig steigt die Zahl der Menschen, die Pflege benötigen.
In einem 2023 veröffentlichten Bericht fasste Eurofound die Situation so zusammen:
„Arbeitskräftemangel ist besonders in Sektoren mit herausfordernden Arbeitsbedingungen verbreitet, wie etwa im Gesundheits- und Langzeitpflegesektor. Geringe Investitionen, gekoppelt mit den Auswirkungen der [Covid-19]-Pandemie und einem geschlechtergetrennten Arbeitsmarkt, tragen zum Mangel an Arbeitskräften in der Gesundheits- und Langzeitpflege bei. Dies wird durch die alternde Bevölkerung und Arbeitskräfte der EU in den kommenden Jahren weiter verschärft.“
Eurofound Bericht
So weit, so schlecht. Die Situation ähnelt sich in den EU-Mitgliedstaaten und den Beitrittskandidatenländern. Alle kämpfen mit denselben Herausforderungen, zusätzlich zu dem allgegenwärtigen Problem der stetig steigenden Gesundheitskosten.
Alternde Bevölkerung
Die demografischen Veränderungen in der EU sind tiefgreifend. Der Bevölkerungsanteil im Alter von 65 Jahren und älter ist laut einem OECD-Bericht von 2024 von 16 Prozent im Jahr 2000 auf über 21 Prozent im Jahr 2023 gestiegen. Prognosen zufolge wird dieser Anteil bis 2050 auf fast 30 Prozent ansteigen.
- Daten aus Italien sagen genau dieses Szenario voraus. Einem Bericht des Think Tanks Teha, dem Meridiano Sanità Report, zufolge bringt dies das Gesundheitssystem in Gefahr: Schon heute fließen etwa 60 Prozent der nationalen Gesundheitsausgaben an Seniorinnen und Senioren, obwohl sie nur 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
- Die Statistikabteilung der französischen Sozialministerien (DREES) warnte, dass mit einer alternden Bevölkerung und einem erwarteten Anstieg chronischer Krankheiten der Bedarf an Pflege bis 2040 um etwa 55 Prozent steigen wird – weit mehr als die Zahl der Pflegekräfte.
- Deutschlands neue Gesundheitsministerin Nina Warken forderte mehr Kompetenzen und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen, um die alternde Bevölkerung des Landes besser versorgen zu können.
Alternde Arbeitskräfte
Wie die allgemeine Bevölkerung wird auch das Pflegepersonal älter:
- In Frankreich warnte der Nationale Pflegeverband im März, dass trotz eines Anstiegs der Personalzahlen der zukünftige Bedarf im Gesundheitswesen nicht gedeckt werden kann. Zum 1. März gab es 565.553 registrierte Pflegekräfte, von denen 87 Prozent Frauen sind. Das Durchschnittsalter liege „bei etwa 40 Jahren“, sagte die Präsidentin des Verbands, Sylvaine Mazière-Tauran. 12.000 Pflegekräfte waren über 60 Jahre alt. „Wir empfehlen, den Bedarf frühzeitig zu antizipieren und nicht zu warten, bis wir gegen die Wand fahren“, warnte Mazière-Tauran.
- In Bulgarien lag das Durchschnittsalter der Pflegekräfte 2024 bei 49 Jahren. Dies geht aus Daten des nationalen Verbands der Gesundheitsfachkräfte (AHC PBG) hervor. Rund 20 Prozent der Pflegekräfte in Bulgarien seien bereits im Rentenalter, verglichen mit nur 4 Prozent in anderen EU-Mitgliedstaaten, so die Vorsitzende des Verbands, Petya Nedkova. Seit 2015 sei die Zahl der Pflegekräfte um 30 Prozent auf etwa 22.000 im Jahr 2024 gesunken.
- In Spanien sind 49.791 Pflegekräfte zwischen 55 und 64 Jahre alt und werden voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen, so eine Studie des spanischen Pflegeforschungsinstituts. Der spanische Pflegesektor hinkt mit einer Rate von 6,3 Fachkräften pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern weiterhin dem europäischen Durchschnitt hinterher. Es fehlen etwa 123.000 Pflegekräfte.
- Der Leiter des italienischen Statistikamts ISTAT, Francesco Maria Chelli, sagte, dass laut Schätzungen etwa 77 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte des Landes 55 Jahre oder älter sind. Chelli betonte, dass „die Bereitstellung und Alterung des medizinischen Personals kritische Probleme für den Gesundheitssektor darstellen, insbesondere im Hinblick auf den zukünftigen Anstieg der Nachfrage nach Pflege aufgrund der Bevölkerungsdynamik“.
Überlastung
Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte pro Patientin oder Patient variiert stark in Europa. Statistische Daten lassen sich nur schwer vereinheitlichen, aber der EU-Durchschnitt liegt bei etwa vier Ärztinnen und Ärzten pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Für Pflegekräfte liegt diese Zahl näher bei neun.
- Kroatien hat etwa 4,6 Pflegekräfte pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Der Mangel bedeutet, dass das bestehende Personal extrem lange Schichten mit minimalen Pausen arbeitet, was zu hohen Stress- und Burnout-Raten führt.
- In Frankreich haben Beschäftigte im Gesundheitswesen und Angehörige von Kolleginnen und Kollegen, die Suizid begangen haben, im April eine Klage gegen zwei Ministerinnen eingereicht. Der Vorwurf: „Tödliche Arbeitsbedingungen“ in öffentlichen Krankenhäusern, die ihrer Meinung nach zu Suiziden führen.
- In Spanien weisen Hausärztinnen und Hausärzte auf den Mangel an finanziellen Mitteln und Personal hin, was zu längeren Wartezeiten für Termine führt. Jede Ärztin und jeder Arzt führt dort durchschnittlich 6.906 Konsultationen pro Jahr durch, was 28 pro Tag entspricht. Für Pflegekräfte liegt diese Zahl bei 4.104 (16,6 pro Tag).
Verteilung des Fachpersonals
Krankenhäuser und Ärztinnen und Ärzte sind oft in städtischen Gebieten konzentriert, während in anderen Regionen Ärztinnen und Ärzten oder Pflegekräfte pro Kopf mehr Patientinnen und Patienten behandeln müssen.
- In Frankreich sind die Randgebiete städtischer Regionen und einige Grenzregionen oft schlechter abgedeckt. Im April protestierten Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudierende gegen einen Gesetzesvorschlag, der regeln soll, wo Ärztinnen und Ärzte ihre Praxis eröffnen dürfen, um sogenannte „medizinische Wüsten“ zu bekämpfen.
- In Bulgarien arbeitet jede fünfte Pflegekraft in der Hauptstadt Sofia.
- Während Kroatien bei der Anzahl der Ärztinnen und Ärzte pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nicht weit vom europäischen Durchschnitt entfernt ist, sind diese ungleich verteilt, mit Engpässen in ländlichen Gebieten und auf den Inseln.
- In Portugal kommen statistisch 5,6 Ärztinnen und Ärzte auf 1.000 Menschen, jedoch umfasst diese Zahl alle registrierten Medizinerinnen und Mediziner, unabhängig davon, ob sie tatsächlich praktizieren. Ländliche und abgelegene Regionen haben größere Schwierigkeiten, Gesundheitspersonal anzuziehen und zu halten. Dies führt zu Ungleichheiten beim Zugang zur Versorgung.
Abwanderung von medizinischem Fachpersonal
Niedrige Gehälter, schlechte Arbeitsbedingungen und begrenzte Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung treiben Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte dazu, nach besseren Arbeitsplätzen im Ausland zu suchen.
- Zwischen 2019 und 2024 haben mehr als 6.000 Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter den portugiesischen Nationalen Gesundheitsdienst verlassen. Das verschärft den Mangel an Fachkräften, insbesondere in kritischen Bereichen wie Geburtshilfe und Pädiatrie. Viele Fachkräfte entscheiden sich für einen Wechsel in den privaten Sektor oder ins Ausland, wo sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne vorfinden.
- Bosnien und Herzegowina erlebt seit Jahren eine kontinuierliche Abwanderung von Fachkräften im Gesundheitswesen. Schätzungen zufolge haben in den vergangenen zehn Jahren mehr als 4.000 Pflegekräfte und medizinische Technikerinnen und Techniker sowie fast 2.000 Ärztinnen und Ärzte das Land verlassen.
- Bulgariens Gesundheitspersonal forderte im Mai eine Gehaltserhöhung von 150 Prozent. Gewerkschaftsführerin Maya Ilieva erklärte, dass die Gehälter von Pflegekräften niedriger als die in Supermärkten seien, was den Beruf unattraktiv mache.
- Aus Kroatien sind viele Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in besser bezahlte Jobs im Ausland abgewandert. Laut Daten des kroatischen Ärzteverbands haben zwischen dem EU-Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 und 2024 insgesamt 1.214 von etwas mehr als 16.000 Ärztinnen und Ärzten das Land verlassen. Schätzungen zufolge gab es 2024 in Kroatien etwa 4.000 Pflegekräfte zu wenig. Die meisten Fachkräfte wanderten nach Deutschland, Österreich, Irland und Schweden ab. Nachdem die Regierung die Gehälter massiv erhöht hatte, verlangsamte sich die Abwanderungsbewegung jedoch.
- Auch Slowenien verzeichnete eine Abwanderung von Fachkräften im Gesundheitswesen in andere Länder. Berechnungen der slowenischen Pflegekammer für 2022 zeigen, dass in Krankenhäusern und der ärztlichen Grundversorgung 20 bis 25 Prozent der Pflegekräfte fehlen. Es gibt auch nicht genug Ärztinnen und Ärzte, Personal in Pflegeheimen sowie Apothekerinnen und Apotheker. Slowenien konnte bisher auf Personal aus dem ehemaligen Jugoslawien zurückgreifen, doch dieser Pool ist inzwischen erschöpft.
- Deutschland hingegen profitiert stark von der Migration von Fachkräften im Gesundheitswesen. Laut offiziellen Statistiken kommen rund 20 Prozent der Pflegekräfte in Krankenhäusern, Pflegeheimen und mobilen Pflegediensten aus dem Ausland.
Braucht der Gesundheitssektor einfach nur mehr Geld?
Das EU4Health-Programm – ursprünglich als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ins Leben gerufen – bietet finanzielle Unterstützung für den Gesundheitssektor. Im Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021–2027 stellt es ein Budget von 4,4 Milliarden Euro zur Verfügung, um die Gesundheitssysteme zu stärken. Während die Mittel hauptsächlich dafür da sind, die Resilienz der EU gegenüber Gesundheitsbedrohungen zu verbessern, Krebs zu bekämpfen und eine Strategie für den Pharmasektor zu entwickeln, setzten einige Staaten die Gelder auch für die Förderung ihrer personellen Ressourcen im Gesundheitssystem ein.
Das EU-Kandidatenland Bosnien und Herzegowina trat dem Programm im Juli 2024 bei. Es war das erste Mal, dass das Land Zugang zu EU-Mitteln erhielt, die auf die Stärkung der Widerstandsfähigkeit und Digitalisierung des Gesundheitssystems sowie auf zusätzliche Schulungen für das Gesundheitspersonal abzielen. Obwohl dies nur ein Anfang ist, wird erwartet, dass die verfügbaren Mittel dazu beitragen, die Ausstattung zu modernisieren, Arbeitsbedingungen zu verbessern und Berufsentwicklungsprogramme einzuführen.
Slowenien nutzt teilweise Mittel aus dem Wiederaufbau- und Resilienzplan, um den Arbeitskräftemangel im Gesundheitswesen zu bekämpfen, da der Plan spezifische Finanzierung für die Stärkung der Kompetenzen des Gesundheitspersonals, die Sicherstellung der Dienstleistungsqualität und die digitale Transformation des Gesundheitssystems vorsieht.
Viele Maßnahmen zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels im Gesundheits- und Langzeit-Pflegesektor konzentrieren sich auf Löhne und Arbeitsbedingungen, so der Eurofound-Bericht aus dem Jahr 2023. Obwohl Initiativen zur Bekämpfung niedriger Löhne in einigen zentral- und osteuropäischen Ländern – wie Kroatien – geholfen haben, die Zahl der Abwanderungswilligen zu senken, reicht es oft nicht aus, sich nur auf Gehälter zu fokussieren.
Schlechte Arbeitsbedingungen erschweren das Anwerben. Italiens Gesundheitsminister Orazio Schillaci betonte kürzlich: „Wir müssen die Entfremdung vom öffentlichen Gesundheitsdienst und die damit verbundenen Schwierigkeiten, Fachkräfte zu rekrutieren, angehen, insbesondere angesichts der Pensionierungswelle, die einige Berufsfelder besonders betrifft.“
Der Eurofound-Bericht empfiehlt, auch andere Faktoren der Lebensqualität zu berücksichtigen, die die Arbeit attraktiver machen könnten. Dazu zählen Bildungsinfrastruktur, mehr Autonomie bei der Gestaltung der Arbeitszeiten, Zugang zu Weiterbildung und beruflichem Aufstieg sowie sinnstiftende Arbeit.
Viele dieser Bemühungen konzentrieren sich auf professionelle Pflege. Es gibt allerdings auch den Aspekt der informellen Pflege, der angesichts der alternden Bevölkerung Europas an Bedeutung gewinnen wird. Schon jetzt bleibt der Pflegebedarf vieler Menschen unbefriedigt. Mit einer älter werdenden Bevölkerung wird der Bedarf an Pflegearbeit in Pflegeheimen, in den eigenen vier Wänden oder im Rahmen der Familie weiter zunehmen. Diese Arbeit fällt oft auf Familienmitglieder zurück.
Der Think Tank Bruegel weist darauf hin, dass Frauen zu den größten Verliererinnen zählen werden, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, um die Langzeitpflegesysteme auf die kommende Welle an steigendem Bedarf vorzubereiten. Dies liegt daran, dass Pflege – sowohl formelle als auch informelle – überwiegend von Frauen geleistet wird. Frauen reduzieren häufiger ihre Arbeitszeit, da sie unbezahlte Pflegeaufgaben zu Hause übernehmen. In der gesamten EU sind mehr als drei Viertel der professionellen Pflegekräfte Frauen.
Dieser Artikel wird zwei Mal pro Woche veröffentlicht. Der Inhalt basiert auf den Nachrichten der am European Newsroom beteiligten Agenturen.