Straßburg/EU-weit/Wien – Das umstrittene EU-Renaturierungsgesetz hat am Dienstag im zuständigen Umweltausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel keine Mehrheit gefunden. Bei der Fortsetzung des Abstimmungsmarathons von 15. Juni ging am Vormittag die finale Abstimmung über zahlreiche zuvor angenommenen Kompromisse 44 zu 44 aus. Das bedeute, dass dem Plenum des EU-Parlaments die Ablehnung des Kommissionsvorschlags empfohlen werde, sagte Ausschussvorsitzender Pascal Canfin.
Der liberale französische Abgeordnete sorgte im Anschluss bei einer Pressekonferenz für Aufsehen. Ein Drittel der Stimmen der Europäischen Volkspartei (EVP), die sich in den vergangenen zwei Monaten eindeutig gegen das Gesetz positioniert und heute geschlossen dagegen gestimmt habe, sei von Nicht-Ausschuss-Mitgliedern abgegeben worden. Der Manipulationsvorwurf wurde umgehend von den deutschen EVP-Parlamentariern Christine Schneider und Peter Liese zurückgewiesen.
Timmermans zeigte sich am Dienstag im Gespräch mit österreichischen Journalisten trotzdem optimistisch, dass es noch zu Verhandlungen zwischen EU-Rat und dem Europaparlament nach dem geplanten Votum im Plenum am 11. Juli kommen wird. Ein neuer Vorschlag sei für die EU-Kommission derzeit keine Option. Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law), mit dem die Biodiversität und die CO2-Bilanz verbessert werden sollen, gilt neben dem neuen Pestizidgesetz (Sustainable Use Regulation – SUR) als einer der wesentlichen noch offenen Bausteine des „Green Deal“ der Kommission von Ursula von der Leyen. Damit möchte die EU auf die Herausforderungen von Klimawandel und Artensterben reagieren.
Unmittelbar nach der Abstimmung gab es erste Reaktionen österreichischer EU-Abgeordneter. Von einem „Sieg der Vernunft“ und einem „klaren Zeichen für wirksamen Klimaschutz mit Hausverstand statt ideologiegetriebener Belastungspakete“ sprach Alexander Bernhuber, Umweltsprecher der ÖVP im Europaparlament. „Wir müssen Umweltpolitik mit den Menschen machen und nicht gegen Menschen; deshalb werden wir uns dafür einsetzen, dass dieser Vorschlag auch im Plenum nicht angenommen wird.“ Roman Haider (FPÖ) nannte die Ablehnung einen „Etappensieg gegen Bauern-Enteignung“.
Von einem „herben Rückschlag“ sprach dagegen SPÖ-EU-Abgeordneter Günther Sidl in einer Aussendung. Die ÖVP und die Europäische Volkspartei seien „in der Populismusfalle gefangen und betreiben beim Klimaschutz Panikmache, statt nach echten Lösungen zu suchen“. „Die Absage der ÖVP an Klima- und Naturschutz und die Fortsetzung des Angriffs auf den Green Deal ist unverantwortlich“, reagierte Thomas Waitz, EU-Abgeordneter der Grünen, die Volkspartei agiere „als Totengräberin der Natur“. „Jetzt geht es darum, das Gesetz durch das Plenum zu bringen.“
„Die EVP setzt unsere Zukunft aufs Spiel und ignoriert dabei völlig die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge“, kritisierte die Umweltschutzorganisation WWF Österreich. „Wenn das Parlament dieses Gesetz nicht verabschieden kann, könnte es nicht nur zu einem kolossalen Versagen der EU, sondern sogar zu einer weltweiten Blamage werden“, warnte der Ökologe Guy Pe’er vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung namens vieler Kolleginnen und Kollegen, die auf die wissenschaftliche Dringlichkeit von Renaturierungsmaßnahmen hingewiesen hatten. „Wenn die EU, die versucht, in Sachen Umweltschutz weltweit führend zu werden, bei ihrer eigenen Gesetzgebung in die Falle geht und falsche Entscheidungen trifft, wo können wir dann noch einen Fortschritt erwarten?“
Eine qualifizierte Mehrheit für einen abgeänderten Text des Renaturierungsgesetzes hatte es kürzlich im EU-Umweltrat gegeben, der eine „Allgemeine Ausrichtung“ dazu erzielen konnte, obwohl es auch im Kreis der Mitgliedsstaaten etliche Bedenken gibt. Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) hatte sich bei der Abstimmung enthalten, nachdem die Bundesländer, in deren Zuständigkeit der Naturschutz fällt, geschlossen ihre Ablehnung des vorliegenden Texts bekundet hatten. Confin wies heute darauf hin, dass eine Mehrheit von konservativ regierten EU-Mitgliedsstaaten im Rat für das Gesetz gestimmt hätten, was sich auch auf das Stimmverhalten im EU-Parlament auswirken könnte. „Es gibt also durchaus noch die Chance für eine Annahme.“
„Dieser Text ist eine solide Grundlage für die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament“, hatte Romina Pourmokhtari, schwedische Ministerin für Klima und Umwelt und derzeitige Vertreterin des Ratsvorsitzes, nach der Abstimmung im Rat erklärt. Schon am Samstag übernimmt jedoch Spanien den EU-Ratsvorsitz – und wird sich auch mit dem „Nature Restauration Law“ befassen müssen. Spanien habe bereits klargemacht, dass es dem Gesetz große Priorität einräumen werde, sagte Luena: „Das sind gute Nachrichten!“ (27.06.2023)
Edtstadler: EU braucht Richtungsänderung in Migrationspolitik
Luxemburg/Brüssel – Die EU-Europaminister bereiteten am Dienstag den Europäischen Rat Ende der Woche in Brüssel vor. Die großen Themen des letzten Gipfels unter schwedischer Präsidentschaft sind unter anderem die Unterstützung der Ukraine und Migration. „Um als EU weiterbestehen zu können, muss eine Richtungsänderung in der Migrationspolitik passieren“, forderte Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) vor dem Treffen mit ihren Amtskollegen vor Journalisten in Luxemburg.
Edtstadler bezeichnete die Migration als „die große Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte in der EU“. Die Beschlüsse der Innenminister für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik seien richtungsweisend. Nun müssten die Staats-und Regierungschefs das Thema umfassend behandeln. Österreich werde im Verbund mit anderen Staaten fordern, dass die Debatte noch breiter werde: „Das Bootsunglück in Griechenland hat gezeigt, dass es so nicht weitergehen kann.“
Die Minister sicherten der Ukraine am Dienstag weitere Unterstützung zu. Dabei gehe es laut Edtstadler auch um die Erweiterung: „Ich finde es richtig, dass es zu den Fortschritten der Ukraine ein mündliches Update der Kommission gegeben hat. Schade ist, dass der Westbalkan nicht gleich behandelt wird.“ Die Westbalkan-Länder hätten auch ein Update auf ihrem Weg in die Union verdient. Die Minister tauschten sich mit dem moldauischen Außenminister Nicu Popescu zu den Fortschritten seines Landes aus. Deutschlands Europastaatssekretärin Anna Lührmann betonte, der Erfolg Moldaus auf dem Weg in die EU sei „klar erkennbar“.
Laut Edtstadler könnten die südosteuropäischen Staaten „in Bälde beitreten“ und bräuchten dann auch Sitze im EU-Parlament. Darum halte sie jetzt „wenig davon, die Sitze anlasslos zu vermehren“. Die vom EU-Parlament geforderte Änderung des Wahlrechts stand am Dienstag auch auf der Agenda. Laut der Ministerin sei es „jetzt spät dafür“: „Wir brauchen in Österreich zur Änderung des Wahlrechts mindestens ein Jahr Vorlauf. In einem Jahr sind die EU-Wahlen schon vorbei.“ Das gelte auch für das Spitzenkandidatenprinzip, das nach „Schwierigkeiten beim letzten Mal“ nun in Gesetzesform gegossen werden sollte. Ihre Amtskollegin Lührmann hält transnationale Kandidatenlisten für „ein gutes Signal an die Bürger, um uns in Europa näher zusammen zu bringen“. Sie sehe aber auch „Widerstand“.
Dies zeigte auch die öffentliche Debatte der Minister am Dienstagnachmittag. Während beispielsweise die schwedische Europaministerin und derzeitige Ratsvorsitzende Jessika Roswall für eine „rasche Lösung“ appellierte („Es ist dringend!“), betonte ihr polnischer Amtskollege Szymon Szynkowski vel Sęk, dass vor neuen Ideen die Wahlrechts-Reform von 2018 umgesetzt gehörte. Die Ungarin Judit Varga erklärte, die Vorschläge des Parlaments widersprächen teils den Verfassungen der Mitgliedstaaten. Auch Edtstadler zeigte in der Debatte Bedenken: Österreich unterstütze grundsätzlich Maßnahmen zur Förderung der Wahlbeteiligung. Der vorliegende Vorschlag habe aber eine „umfassende Änderung des Wahlrechts vor Augen“. Sie rechnet wie die Mehrheit ihrer Amtskolleginnen und -kollegen nicht mit einer Lösung vor den Wahlen 2024. „Die europäische Demokratie würde gewinnen, wenn die Ratsposition bis zum Ende der Amtsperiode feststeht“, forderte hingegen die Französin Laurence Boone.
Maroš Šefčovič, Vizepräsident der EU-Kommission für interinstitutionelle Beziehungen, betonte, dass die Kommission in diesem Prozess „keine formelle Rolle“ habe. Die Kommission wolle jedoch auch, dass die Wahlen „europäischer und inklusiver“ werden. (27.06.23)
„Die Zahl steigt“: EU-Agrarrat debattierte über Bär und Wolf
Luxemburg – Bär und Wolf sind am Montag auch ein Thema des EU-Agrarrats in Luxemburg gewesen. In einer auf Initiative von Rumänien abgehaltenen Aussprache forderte Österreichs Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) erneut länderübergreifende Maßnahmen und eine „praxisnahe Ausnahme vom strengen Schutz des Wolfs“. Zahlreiche EU-Länder haben dasselbe Problem: Die Populationen von bisher streng geschützten Raubtieren nehmen stark zu und sorgen für Verunsicherung und Schäden.
Rumänien forderte heute in Luxemburg einen Paradigmenwechsel der bisherigen EU-Politik gegenüber „Beutegreifern“ und „innovative Lösungen“, um ein gedeihliches Zusammenleben von Mensch und Tier weiter zu ermöglichen. Die größten Probleme scheinen Wölfe zu verursachen. In der Slowakei habe ein Wolfsrudel in der vergangenen Woche 300 Schafe angegriffen, von denen zwei Drittel dabei getötet oder verletzt wurden, hieß es seitens des Nachbarlandes. Nicht nur die Welt an sich, auch der Bestand der im Annex der FFH-Richtlinie angeführten Tierarten habe sich in den seither vergangenen drei Jahrzehnten radikal verändert, lautete der Tenor der Wortmeldungen. „Es gibt einfach immer mehr Raubtiere, dem müssen wir etwas entgegenhalten“, hieß es etwa seitens Italiens. Frankreich forderte eine größere Flexibilität für die Mitgliedsländer, eine Überarbeitung der Richtlinie und ihres Anhanges sowie zusätzliche Finanzmittel, während Spanien, das über die zweitgrößte europäische Wolfspopulation verfügt, für eine zurückhaltenden Strategie eintrat. Man brauche eine langfristige Strategie und rate von kurzfristiger Freigabe von Abschüssen ab.
Genau das ist in Österreich aber derzeit nach immer häufigeren Wolfsrissen die Problemlösungsstrategie. Ab 1. Juli dürfen nach Kärnten, Tirol und Niederösterreich auch in Oberösterreich Problemwölfe abgeschossen werden. Die entsprechende Wolfsmanagementverordnung wurde am Montag in der Landesregierung mehrheitlich beschlossen. In Salzburg sind entsprechende Verordnungen derzeit in Begutachtung, in der Steiermark arbeitet eine Expertenkommission gerade an einem Verordnungsentwurf.
Europarechtlich ist der gewählte rechtliche Umgang mit dem Problem umstritten, dass das politische Problem infolge einer steigenden Verunsicherung der Bevölkerung und immer größeren Schäden jedoch immer akuter werde, daran ließen kürzlich auch der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher und der Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle (ÖVP) bei einer Diskussion in Brüssel keinen Zweifel. In Luxemburg führte Landwirtschaftsminister Totschnig seinen europäischen Amtskolleginnen und -kollegen die Zunahme dieses Problems in Österreich anhand von Zahlen vor Auge: 2020 seien in Österreich 330 Wolfsrisse gezählt worden, im Jahr darauf 506 und im Vorjahr die bisherige Rekordzahl von 791. Heuer seien es bereits 150, obwohl die Almsaison gerade erst begonnen habe.
Seitens der EU-Kommission wurde versichert, das Problem im Blick zu haben. Man wolle „angemessene Lösungen“ unterstützen und habe deshalb eine Expertenstudie in Auftrag gegeben, die Fakten zusammentragen und bis Jahresende Möglichkeiten aufzeigen soll, wie mit den regionalen Problemen durch Wölfe umgegangen werden kann.
Für eine Änderung der FFH-Richtlinie bedarf es der Zustimmung aller 27 EU-Staaten, zuständig dafür sind die Umweltminister, also Ressortchefin Leonore Gewessler. Die grüne Politikerin hatte sich erst im Februar gemeinsam mit elf EU-Amtskollegen auf EU-Ebene für den Schutz des Wolfes stark gemacht. (26.06.23)
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